Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
über Bretz’ Ideen her, dass es sich um persönliche Beleidigungen handelte. Es war in jeder Hinsicht ein beschämendes Schauspiel, vor allem wenn man bedenkt, dass einige der lautesten Kritiker die Scablands nie gesehen hatten und diese außergewöhnlichen Landschaften gar nicht kannten. Sie stützten ihre Argumentation allein auf das Evangelium von den langsamen Prozessen, schwachen Kräften und langen Zeiträumen. 1
Wie Sie vielleicht vermutet haben, erzähle ich diese Geschichte, weil Bretz’ Ideen sich schließlich als richtig erwiesen. Joseph Pardee, ein Geologe, der für den Geologischen Dienst der USA arbeitete, entdeckte die Quelle der Flut: den Gletschersee Missoula, einen riesigen See im Westen von Montana, der in der Eiszeit entstand, als Dämme aus Eis das Wasser stauten. Die kontinentalen Eisplatten hatten sich von Kanada her nach Süden vorgeschoben und den Oberlauf des Columbia River blockiert. Hinter ihnen stieg das Wasser, bis es hoch genug stand (rund 600 Meter tief), um den Damm wegzuspülen und eine gewaltige Flut auszulösen. Erstaunlicherweise wiederholte sich dieser Zyklus immer wieder und führte zu ungefähr vierzig riesigen Fluten.
Aber es dauerte Jahrzehnte, bis Bretz’ Theorie allgemein anerkannt wurde. Sattelitenaufnahmen in den siebziger Jahren trugen dazu bei, dass die Geschichte von den Fluten glaubhafter wurde. Und sobald die Idee akzeptiert war, fanden Geologen auch in mehreren anderen Teilen der Welt Beweise für riesige Fluten, ausgelöst von zerborstenen Eisdämmen. 2 Dass Bretz recht hatte, bedeutet natürlich nicht, dass das geologische Dogma immer falsch ist. Die meisten geologischen Strukturen sind die Folge langsamer Vorgänge, schwacher Kräfte und langer Zeiträume – aber nicht immer. Es gibt umwälzende Ereignisse. Die Wahrheit hat also Nuancen.
Ich habe Bretz’ Geschichte erzählt, um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben, wie schwierig es ist, »wissenschaftliche« Paradigmen zu ändern. Wie die Geologie hat auch die Medizin ihre Paradigmen, und eines der auffälligsten ist das Paradigma der Früherkennung. Doch einige Ärzte werfen Fragen auf, manche seit Jahrzehnten. Keiner sagt, das Paradigma sei immer falsch. Es gibt mit Sicherheit Situationen, in denen es besser ist, eine Krankheit früher zu behandeln, nicht später. Aber das Paradigma der Frühdiagnose hat nicht immer recht, und die Wahrscheinlichkeit, dass es recht hat, wird geringer, wenn wir nach immer früheren Krankheitsformen suchen.
In einer Hinsicht hatte Bretz es leicht. Das geologische Paradigma der langsamen Prozesse, schwachen Kräfte und langen Zeiträume war nur einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern bekannt. Im Gegensatz dazu wurde das Paradigma der Früherkennung auch außerhalb der Ärzteschaft propagiert und wird heute von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Deshalb ist es noch schwerer zu ändern. Denken Sie daran, was geschah, als die amerikanische Preventive Services Task Force im Jahr 2009 vorschlug, Frauen in den Vierzigern sollten mit der Mammografie warten, bis sie fünfzig seien und sich dann alle zwei Jahre, nicht jährlich, röntgen lassen. Zwei Wochen später distanzierte sich das Gesundheitsministerium von diesem Rat; die Mitglieder der PSTF wurden vor den Kongress zitiert; und der Senat verabschiedete ein Gesetz, das Versicherungen vorschrieb, die Mammografie zu bezahlen (ebenso die Vorsorgeuntersuchungen auf Eierstock- und Lungenkrebs, deren Nutzen nicht bewiesen ist und die erheblichen Schaden anrichten können). 3
Wir brauchen eine gesunde Skepsis gegenüber der Früherkennung
Wir alle müssen die Früherkennung mit einem kritischeren Auge betrachten und begreifen, dass sie ein zweischneidiges Schwert ist. Sie hilft wahrscheinlich einigen, schadet jedoch anderen. Meine Kollegen und ich nennen das »gesunde Skepsis« – in diesem Fall kann Skepsis sogar die Gesundheit bewahren. Damit wir die Früherkennung kritischer sehen können, müssen wir sie ins rechte Licht rücken.
Zuerst sollten wir verstehen, warum Menschen krank werden. Die übliche Erklärung beruft sich auf eine Kombination aus Genetik und Umwelt. Ihre Gene können Sie nicht ändern, zumindest noch nicht. Ihre Umwelt (die Umgebung, die Ernährung und so weiter) ist formbarer. Manches lässt sich nicht ändern, aber ein großer Teil schon – vor allem gute und schlechte Gewohnheiten. Natürlich gibt es einen weiteren Grund dafür, dass wir krank werden: Pech. Menschen mit denselben Erbanlagen,
Weitere Kostenlose Bücher