Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
beantworten. Aber ich kann Ihnen sagen, ab wann wir damit beginnen sollten, diese Frage zu stellen: Immer wenn wir diagnostizieren, obwohl keine Symptome vorhanden sind. Von Anomalien oder Krankheiten, die so früh diagnostiziert werden – das heißt bevor sie auftreten –, können wir nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass sie jemals Symptome hervorrufen werden.
Im Allgemeinen ist es richtig, symptomatische Krankheiten früh zu behandeln. 6 Ärzte ziehen es vor, eine tiefe Platzwunde früh zu versorgen, anstatt zu warten, bis sie sich entzündet hat. Wir wollen Patienten mit Lungenentzündung lieber früher behandeln als spät, wenn sie bereits Atemnot und einen niedrigen Blutdruck haben. Wir wollen Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, möglichst früh sehen und nicht erst dann, wenn sie gefährliche Herzrhythmusstörungen und einen niedrigen Blutdruck haben. Und jeder Arzt möchte eine Frau mit einem kleinen Knoten in der Brust lieber behandeln als eine, die bereits einen großen Tumor hat.
Wenn ich vorschlage, der Früherkennung mit Skepsis zu begegnen, meine ich also Diagnosen in Abwesenheit von Symptomen; denn in solchen Fällen können Überdiagnosen die Folge sein. Ich behaupte nicht, dass alle Krankheiten heilbar sind, wenn Symptome auftreten (die meisten symptomatischen Lungen- und Pankreaskarzinome sind nicht heilbar), und ich lehne nicht sämtliche Diagnosen ab, wenn keine Symptome erkenntlich sind (schwerer Bluthochdruck sollte unbedingt diagnostiziert werden). Ich trete lediglich dafür ein, dass wir mit Frühdiagnosen bei Gesunden äußerst vorsichtig sein sollten.
Viele Kräfte haben sich vereinigt, um aus der medizinischen Versorgung einen wesentlichen Teil unseres Lebens zu machen – selbst wenn wir gesund sind. Dank des wissenschaftlichen Fortschritts ist vieles möglich, und zunehmender Wohlstand macht vieles bezahlbar. Und wegen der Größe des Marktes (es gibt viele Gesunde) ist das wirtschaftliche Interesse an der Früherkennung groß. Deshalb ist es wichtig, darüber nachzudenken, wie die Medizin das Leben beeinflusst. Ist die medizinische Versorgung für Sie ein Mittel, offenkundige Probleme zu beheben? Oder ist sie eine Methode, Probleme zu entdecken und zu behandeln, von denen Sie nichts wissen? Natürlich gibt es nicht nur diese beiden Alternativen. Die meisten von uns wollen in gewissem Umfang beides haben. Aber es gibt ein Spektrum von Strategien, anhand dessen wir unsere Einstellung zur Medizin bestimmen können. Jeder von uns muss sich überlegen, welchen Platz er auf diesem Spektrum einnimmt.
Manche ziehen es vielleicht vor, nach Gesundheit zu streben. Sie wollen sich wohlfühlen und möglichst wenig Kontakt mit der Medizin haben, solange es ihnen gut geht. Möglicherweise akzeptieren sie eine etwas geringere Lebenserwartung oder ein leicht erhöhtes Invaliditätsrisiko, um Nebenwirkungen von Medikamenten, Überdiagnosen und Überbehandlungen zu vermeiden. Sie wollen die Dienste der Medizin nur dann in Anspruch nehmen, wenn sie sich eines Gesundheitsproblems bewusst sind.
Andere wollen Krankheiten vorbeugen und alles tun, was sie tun können, um auch in Zukunft gesund zu sein und ihr Invaliditäts- oder Sterberisiko zu senken – obwohl sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit bei ihnen größer ist, als krank bezeichnet zu werden, häufig behandelt zu werden und an Nebenwirkungen der Behandlung zu leiden. Sie bemühen sich, das Sterberisiko zu senken, und räumen der Medizin einen größeren Platz in ihrem Leben ein. Viele halten dies für die beste Strategie, um gesund zu bleiben. Aber es ist schwierig, das Wohlbefinden zu fördern, wenn man aktiv nach Anomalien sucht. Wer sich bestätigen lassen will, dass alles in Ordnung ist, muss frühe Diagnosen in Kauf nehmen. Ironischerweise erhöht diese Strategie das Risiko zu erfahren, dass nicht alles in Ordnung ist.
Vielleicht hilft Ihnen dieser Tipp weiter: Soweit ich überhaupt Einfluss auf meine Todesursache habe, sind Herzkrankheiten, Aneurysmen und Krebs nicht meine Hauptsorgen. Ich möchte vor allem einen langsamen geistigen Verfall in einem Langzeitpflegeheim verhindern. Lebensverlängerung ist nicht mein einziges Ziel. Ich lege großen Wert darauf, mich wohlzufühlen, möglichst wenig Medikamente zu schlucken und an den Nebenwirkungen von Therapien nicht mehr zu leiden als unbedingt nötig.
Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Einstellung zum Leben und zu Krankheiten – vor allem wenn
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