Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
hätte keiner von ihnen einen Herzinfarkt gehabt.
Die gleiche Rechnung können wir für Osteoporose vornehmen, gestützt auf die Daten einer anderen randomisierten Studie: des Fracture Intervention Trial. 18 Sie untersuchte, was geschieht, wenn wir die Knochendichte von Frauen, die noch nie Knochenbrüche hatten, fast normalisieren. Im Laufe von vier Jahren hatten 14 Prozent der nicht behandelten Frauen symptomatische Knochenbrüche. Hochgerechnet auf eine achtzehnjährige Periode (die durchschnittliche Lebenserwartung einer achtundsechzigjährigen Frau in der Studie), würden 49 Prozent der nicht behandelten Frauen einen Knochenbruch erleiden.
Das bedeutet, 51 Prozent der Patientinnen wurden Opfer einer Überdiagnose.
Wie wirkt diese Behandlung im Laufe eines Lebens? Nach achtzehn Jahren (sofern die in der Studie festgestellte Wirkung anhält) müssen 44 Prozent der behandelten und 49 Prozent der unbehandelten Patientinnen mit einem Knochenbruch rechnen. Das heißt, nur 5 Prozent profitieren von der Therapie (49 minus 44).
Und hier ist die Berechnung für eine fast normale Knochendichte:
Wenn bei hundert Patientinnen eine fast normale Knochendichte diagnostiziert und lebenslang behandelt wird, wie viele Patientinnen werden dann …
profitieren
(die Behandlung bewahrt sie vor einem Knochenbruch)
5
unnötig behandelt
(sie erleiden trotz der Behandlung einen Knochenbruch)
44
keinen Vorteil haben
(Überdiagnose – die Behandlung nützt nichts, weil sie
ohnehin nie einen Knochenbruch gehabt hätten)
51
Wenn wir hundert Patientinnen diagnostizieren und behandeln, profitieren fünf von ihnen davon, weil bei ihnen ein Knochenbruch verhindert wird. Vierundvierzig Patientinnen werden unnötig behandelt – bei ihnen kommt es trotz der Therapie zu einem Knochenbruch (bei ihnen liegt also keine Überdiagnose vor, aber auch ihnen wurde nicht geholfen, und sie litten möglicherweise unter den Nebenwirkungen der Behandlung). Die restlichen einundfünfzig sind die Verlierer, denn sie wurden Opfer einer Überdiagnose.
Würden Sie sich behandeln lassen? Es gibt keine richtige Antwort. Aber die Entscheidung ist schwierig.
Vielleicht fragen Sie: Warum soll ich mich nicht behandeln lassen? Nun, es gibt gute Gründe dafür, eine Überdiagnose wegen Diabetes oder Bluthochdruck zu vermeiden: Weder Ihr Blutzucker noch Ihr Blutdruck dürfen zu stark fallen. Kann ein zu geringer Cholesterinspiegel gefährlich sein? Derzeit glauben wir das nicht; aber es gibt keine langfristigen Studien dazu. Manche Wissenschaftler sind besorgt, weil der menschliche Körper Cholesterin braucht, um Zellen zu bilden und zu reparieren. Die üblichen Cholesterinsenker (Statine genannt) sind im Allgemeinen völlig unbedenklich. Manchmal wird ein neues Medikament wegen gesundheitlicher Bedenken vom Markt genommen (versuchen Sie also, bei den alten zu bleiben), und bei allen besteht ein winziges Risiko für ein großes Problem: rascher Muskelschwund. Aber im Großen und Ganzen sind sie so gut, wie Medikamente eben sein können, besonders zur Vorbeugung gegen einen zweiten Herzinfarkt.
Ist eine zu hohe Knochendichte gefährlich? Wahrscheinlich nicht. Aber in diesem Punkt bin ich mir noch weniger sicher, weil wir weniger Erfahrung mit Bisphosphonaten (den üblichen Medikamenten zur Steigerung der Knochendichte) haben. Es gibt einige Bedenken wegen der langfristigen Folgen dieser Medikamente – es könnte sein, dass sie die Knochen sogar brüchiger machen, indem sie die Knochenstruktur ändern. Zudem können sie den Kalziumstoffwechsel stören, Speiseröhrengeschwüre verursachen und, sehr selten, Knochen absterben lassen. 19 Hoffentlich werden wir dank langfristiger Studien bald mehr wissen.
Aber der wahre Nachteil all dieser Änderungen der Diagnoseregeln besteht darin, dass sie uns auf eine schiefe Ebene bringen und immer mehr Menschen zu Patienten machen. Zu viele Menschen nehmen bereits zu viele Medikamente. Natürlich fühlen sich manche Menschen sicherer, wenn ihre potenziellen Probleme diagnostiziert und behandelt werden. Manche nehmen dafür vielleicht sogar Nebenwirkungen und den Aufwand in Kauf. Aber dieses Sicherheitsgefühl basiert zum Teil auf den Aussagen einflussreicher Leute, die den Nutzen der Diagnose und Behandlung leichter Anomalien systematisch übertreiben (und kaum etwas über mögliche Nachteile sagen). Deshalb ist das Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein, wahrscheinlich ein Zerrbild der Wirklichkeit.
Aber das ist noch
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