Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Amerikaner zu Patienten gemacht haben? Einige dieser Patienten werden erkranken – sie werden an Symptomen und Komplikationen leiden oder sogar sterben. Und einem Teil dieser Menschen (nicht allen) können wir helfen, wenn wir sie dank einer frühen Diagnose behandeln. Das ist auf jeden Fall gut, denken Sie jetzt vielleicht.
Aber als Gruppe haben diese Patienten, bei denen wegen eines gesenkten Grenzwerts eine Diagnose gestellt wurde, die geringsten Abweichungen unter allen Patienten aufzuweisen. Darum ist auch ihr Risiko für negative Vorkommnisse am geringsten. Bei manchem wird es zwar Komplikationen geben, aber bei den meisten nicht – sie wurden Opfer einer Überdiagnose, und Diagnosen und Therapien können ihnen nur schaden. Auf dieses Spannungsfeld stoßen wir überall in diesem Buch. Einigen wenigen wird möglicherweise geholfen, viele fallen einer Überdiagnose zum Opfer, und einigen wird dadurch Schaden zugefügt. Und niemand weiß, wer sich in welcher Gruppe befindet.
Das gängige ärztliche Ethos verlangt, sich auf den möglichen Nutzen für wenige zu konzentrieren und die Folgen für den Rest herunterzuspielen. Darum suchen die medizinischen Experten nach Menschen, deren höheres Risiko glaubhaft ist, und empfehlen dann den anderen Ärzten, genau diese Patienten zu identifizieren und zu behandeln. Aber wenn wir das Für und Wider abwägen, sollten wir die besten Daten nutzen, die uns zur Verfügung stehen, und die stammen aus randomisierten Studien.
Was das Cholesterin anbelangt, ist die bereits erwähnte Air Force / Texas Coronary Atherosclerosis Prevention Study ein gutes Beispiel. Sie untersuchte, wie sich die Senkung eines fast normalen Cholesterinwertes (zwischen 200 und 240) bei Menschen ohne Herzkrankheit auswirkt. Befassen wir uns zuerst mit den Menschen, die nicht behandelt wurden (weil sie für die Placebogruppe ausgelost wurden). Im Laufe von fünf Jahren hatten 5 Prozent dieser unbehandelten Patienten ihren ersten schweren Herzzwischenfall.
Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie oft Überdiagnosen gestellt werden, müssen wir abschätzen, wie hoch das Risiko für einen medizinischen Zwischenfall im Laufe eines Lebens ist. Dies spiegelt das wichtigste Kriterium für Überdiagnosen wider: Wenn ein Mensch am Ende seines Lebens sagen kann, dass seine körperliche Verfassung ihm nie Probleme bereitet hat, wurde er das Opfer einer Überdiagnose. Um das Risiko zu berechnen, habe ich die Erfahrungen im Laufe von fünf Jahren auf vierundzwanzig Jahre hochgerechnet (die Lebenserwartung eines Achtundfünfzigjährigen, zugleich das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer). Daraus ergibt sich folgende Schätzung: 22 Prozent der unbehandelten Personen in der Studie werden wahrscheinlich im Laufe ihres Lebens einen ersten schweren Herzzwischenfall haben. Das bedeutet, dass bei den übrigen 78 Prozent eine Überdiagnose vorlag.
Vielleicht fragen Sie nun, wie gut die Behandlung während eines Lebens wirkt (da Cholesterinsenker ein Leben lang verschrieben werden). Nach vierundzwanzig Jahren (sofern die in der Studie festgestellte Wirkung anhält) werden 14 Prozent der behandelten und 22 Prozent der unbehandelten Patienten einen ersten schweren Herzzwischenfall haben. Das heißt, nur 8 Prozent profitieren von der Therapie (22 minus 14, die Chance auf eine positive Wirkung).
Welche Folgerungen können Patienten mit einem fast normalen Cholesterinwert aus diesen Schätzungen ziehen?
Wenn bei hundert Patienten ein fast normaler Cholesterinwert diagnostiziert und lebenslang behandelt wird, wie viele Patienten werden dann …
profitieren
(die Behandlung bewahrt sie vor einen ersten schweren Herzzwischenfall)
8
unnötig behandelt
(sie bekommen trotz der Behandlung einen ersten schweren Herzzwischenfall)
14
keinen Vorteil haben
(Überdiagnose – die Behandlung nützt nichts, weil sie ohnehin nie einen
Herzzwischenfall gehabt hätten)
78
Wenn wir hundert Patienten diagnostizieren und behandeln, profitieren acht von ihnen davon, weil bei ihnen ein erster schwerer Herzzwischenfall verhindert wird. Vierzehn Patienten wurden unnötig behandelt – bei ihnen kommt es trotz der Therapie zu einem ersten schweren Herzzwischenfall (sie wurden also nicht Opfer von Überdiagnosen, aber auch ihnen wurde nicht geholfen, und sie litten möglicherweise unter den Nebenwirkungen der Behandlung). Die restlichen achtundsiebzig sind die Verlierer, denn sie wurden Opfer von Überdiagnosen. Selbst ohne Behandlung
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