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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Anomalien
Anomalie
    (Situation)
Häufigkeit der Anomalien, festgestellt durch
Zunahme durch Scanner
Klinische
Untersuchung
Scanner
Bauchaortenaneurysmen
    (201 Männer mit hohem Risiko)
2,5 %
9 %
    (Bauch-Ultraschall)
3,6-fach
Blutgerinnsel im Bein
    (349 Traumapatienten)
1 %
58 %
    (Duplex-Ultraschall)
58-fach
Blutgerinnsel in den Lungen
    (44 Patienten mit Bein-Gerinnseln)
16 %
52 %
    (Ventilations-Perfusions-Scan)
3,3-fach
70 %
    (Spiral-CT)
4,4-fach

    Was für Diagnosen galt, die auf numerischen Regeln basierten (zum Beispiel Bluthochdruck und Diabetes), gilt also auch für Diagnosen, die sich auf das stützen, was wir Ärzte sehen können. Da kleinere Anomalien seltener Symptome oder den Tod verursachen als größere, profitieren Menschen mit kleineren Anomalien weniger von einer Behandlung. Zudem ist die Zahl der Menschen mit kleineren Anomalien viel größer. Das alles erklärt, warum kleinere Anomalien häufiger zu Überdiagnosen führen.
    Wenn Ärzte mehr sehen können, werden manche Entscheidungen viel schwieriger. Bisweilen ist es wirklich schwer herauszufinden, ob man festgestellte Anomalien behandeln sollte oder ob es besser gewesen wäre, wenn man sie gar nicht entdeckt hätte. In dieses Dilemma geraten wir Ärzte meist, wenn wir eine Tomografie verordnen, um ein Symptom besser einschätzen zu können – nicht, weil wir glauben, das Symptom deute auf eine Anomalie hin, sondern weil wir nicht wissen, was wir sonst tun sollen. Nennen Sie es eine »Schnüffeltour«. Wenn wir bei einer Schnüffeltour mehr sehen, kann Verwirrung die Folge sein. Sie führt oft zu zweideutigen Befunden – zur Entdeckung von Anomalien, die möglicherweise für die Symptome verantwortlich sind – und zu Überdiagnosen.
    Vor etwa zehn Jahren hatte meine Mutter einen schlechten Tag. Sie war fast achtzig, aber im Großen und Ganzen robust (damals wanderte sie in den Bergen von Colorado), und ich hatte sie nie zuvor über einen schlechten Tag klagen hören. Sie konnte mir nicht sehr genau beschreiben, was sie damit meinte (und ich vermute, dass es ihr bei ihrem Arzt nicht besser ging). Sie konnte sich nicht sonderlich gut an diesen Tag erinnern. Sie sei eben »erschöpft«, erklärte sie – müde von Kopf bis Fuß und unfähig, klar zu denken. Sie bestritt, klare Symptome (Brustschmerzen, Taubheit, Benommenheit, Fieber, Übelkeit und so weiter) zu haben. Ein paar Tage später, als sie sich besser fühlte, ging sie zum Arzt. Dieser ließ ein Ultraschallbild ihrer Halsschlagadern anfertigen – der Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen. Ich glaube, er rechnete nicht wirklich damit, dass sie einen Schlaganfall oder auch nur einen Mini-Schlaganfall (eine transitorische ischämische Attacke – das ist der vorübergehende Zustand, der einen Schlaganfall ankündigen kann) gehabt hatte. Vermutlich klammerte er sich an einen Strohhalm und erwartete die üblichen Probleme alter Leute. Das kann ich ihm nicht verübeln – auch ich habe schon solche unlogischen Tests angeordnet. 22
    Aber bei der Untersuchung wurde eine Anomalie festgestellt: eine moderate Gefäßblockade an einer Halsseite. Ich bin sicher, dass der Befund nichts mit ihrem schlechten Tag zu tun hatte. Das behaupte ich sowohl wegen der Dauer der Symptome (zu lange für eine transitorische ischämische Attacke und zu kurz für einen echten Schlaganfall) als auch wegen ihres Charakters (nicht herdförmig, nur ein allgemeines Krankheitsgefühl). Nachdem sie und ich lange über die Vor- und Nachteile einer Operation diskutiert hatten (das ist eine sehr schwere Entscheidung bei Patienten, die wie meine Mutter keine Schlaganfallsymptome haben), 23 beschloss sie, nichts zu tun.
    Das war vor über einem Jahrzehnt. Sie hatte nie einen Schlaganfall. Aber diese Diagnose blieb an ihr haften und wurde von anderen Ärzten, die sie seither behandelt haben, einige Male angesprochen. Manche empfahlen einen Eingriff, andere rieten ihr, Medikamente (nicht nur Aspirin) zu nehmen, wieder andere unterstützten ihren Entschluss, nichts zu tun. Der Befund war zweideutig. Und heute wissen wir, dass es sich fast mit Sicherheit um eine Überdiagnose gehandelt hat.
    Was meine Mutter erlebte, geschieht immer wieder. Viele symptomlose Patienten haben irgendwelche Anomalien. Viele Menschen haben gelegentlich vage Bauchschmerzen. Wenn wir sie alle mit Ultraschall untersuchen, entdecken wir eine Menge Gallensteine. Aber wir werden auch feststellen, dass die meisten dieser Gallensteine nichts mit den

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