Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Bauchschmerzen zu tun haben. Viele Menschen haben manchmal Knie- und Rückenbeschwerden. Wenn wir sie alle mit Kernspintomografen untersuchen, finden wir viele beschädigte Knorpel und Bandscheibenvorwölbungen. Aber wir werden auch feststellen, dass die meisten Anomalien nicht an den Knie- und Rückenbeschwerden schuld sind. Und viele Menschen haben schlechte Tage.
Relativ wenige Menschen werden für krank erklärt, wenn Ärzte sie äußerlich untersuchen; aber relativ viele gelten als krank, nachdem Scanner ihr Inneres durchleuchtet haben. Die Aufnahmen der Ultraschallgeräte und der Computer- und Magnetresonanztomografen sind eindrucksvoll. Ärzte können darauf Anomalien aller Art sehen. Das Problem ist, dass wir zu viel sehen. Vielen Menschen wird heutzutage mitgeteilt, sie hätten Bauchaortenaneurysmen, Sinusitis, Bandscheibenvorfälle oder -vorwölbungen, Knieschäden, Schlaganfälle oder Blutgerinnsel in den Lungen und Beinen, was früher niemals diagnostiziert worden wäre. Wenn wir die Grenzwerte – zum Beispiel für den Blutdruck – ändern, schreiben wir gewissermaßen die Medizingesetze um. Wenn bildgebende Techniken die Regeln ändern, sind die Folgen willkürlicher: Ärzte haben unterschiedliche Gewohnheiten, was solche Untersuchungen anbelangt; sie interpretieren die Ergebnisse unterschiedlich und geben auf der Grundlage der Resultate unterschiedliche Empfehlungen. Manchen Patienten kann der technische Fortschritt zweifellos helfen. Aber er fordert auch seinen Tribut – denn anderen wird gesagt, sie hätten Anomalien, obwohl diese Anomalien geringfügig sind und nie Symptome verursachen werden. Diesen Menschen nützt eine Behandlung nichts; sie kann ihnen nur schaden. Das Problem ist noch größer, wenn wir Gesunde systematisch ermutigen, sich vorsorglich untersuchen zu lassen, um herauszufinden, ob sie tatsächlich krank sind. Und wenn Ärzte an Vorsorgeuntersuchungen denken, geht es meist um Krebs.
Kapitel 4
Wir suchen intensiver nach Prostatakrebs
Vorsorgeuntersuchungen beweisen, dass Krebs zu oft diagnostiziert wird
Es ist schwer vorstellbar, dass das Phänomen »Überdiagnose« auch für den Krebs gilt. Allen Ärzten und der Öffentlichkeit wird das Grundwissen über den Krebs eingetrichtert. Er ist eine schreckliche Krankheit, die sich unaufhaltsam im ganzen Körper ausbreitet und unweigerlich zum Tod führt, wenn man sie nicht behandelt – und allzu oft auch dann, wenn man sie behandelt. Und die beste Behandlung ist die Früherkennung. Also ist das Ziel der Ärzte ganz klar: Entdecke den Krebs so oft wie möglich bereits im Frühstadium. Bis vor wenigen Jahren galten Ärzte, die etwas anderes sagten, als Häretiker.
Dann kam die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung und zwang uns, unsere Ansichten zu ändern. Plötzlich hatte es den Anschein, als müssten wir nur nach dem Prostatakrebs Ausschau halten, um ihn zu finden. Wir stellten fest, dass so viele Männer Prostatakrebs hatten – erheblich mehr, als unserer Erwartung nach jemals an Symptomen leiden oder gar sterben würden –, dass wir Überdiagnosen selbst beim Krebs nicht mehr leugnen konnten.
Der Zweck der Krebsvorsorgeuntersuchung besteht darin, gesunde Menschen, die keine Symptome aufweisen, intensiv und systematisch zu untersuchen. (Wenn wir Krebs bei Patienten mit Symptomen suchen, ist das ein diagnostischer Test, keine Vorsorge.) Wir suchen heutzutage wirklich gründlich nach Krebs: Wir testen mehr, wir testen häufiger, und wir verwenden genauere Testverfahren. Und je intensiver wir suchen, desto mehr Fälle von Krebs finden wir.
Natürlich ist Krebs etwas anderes als Sinusitis oder Knieschmerzen. Beim Krebs steht viel mehr auf dem Spiel, nämlich das Leben. Aber das Risiko der Behandlung ist ebenfalls hoch: Auch die Krebstherapie kann Ihnen schaden oder sogar das Leben kosten. Deshalb wollen Sie bestimmt nicht wegen Krebs behandelt werden, wenn es nicht notwendig ist.
Wie alle anderen Früherkennungsmaßnahmen ist auch die Krebsvorsorge ein doppelschneidiges Schwert. Sie kann nützlich sein, wenn sie uns die Möglichkeit gibt, früh einzugreifen; dann können wir die Zahl der Krebstoten verringern. Sie kann aber auch schaden: durch Überdiagnose und Überbehandlung. Und sie kann beides gleichzeitig bewirken. Es gibt also gute Gründe für die Krebsvorsorgeuntersuchung, aber auch gute Gründe, sie mit Bedacht anzuwenden.
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