Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Experten allmählich zu ändern scheinen. Wahrscheinlich hat keine Organisation sich in der Vergangenheit so sehr für die Vorsorgeuntersuchung eingesetzt wie die Amerikanische Krebsgesellschaft. Aber ihr derzeitiger Leiter spricht das unvermeidliche Problem der Überdiagnosen häufig an, sowohl gegenüber den Ärzten als auch in der Öffentlichkeit. Die Centers for Disease Control (die Seuchenschutzbehörde der USA) räumen in ihrem Leitfaden für die Vorsorgeuntersuchung bei Prostatakrebs neuerdings Überdiagnosen ein. Und das amerikanische Nationale Krebsinstitut informiert Ärzte und Patienten über das Problem der Überdiagnosen bei einigen Krebsvorsorgeuntersuchungen. Ich bin vorsichtig optimistisch und gehe davon aus, dass die Diskussion über die Mammografie bald ausgewogener wird.
Wenn es so kommen sollte, frage ich mich, ob wir zu einer weiteren randomisierten Studie bereit sind. Ich glaube, wir könnten Überdiagnosen (und die Häufigkeit von Fehlalarm) verringern und dennoch die Sterblichkeit senken, wenn wir weniger intensiv nach Brustkarzinomen suchen würden. Die zweite kanadische Studie belegt, dass die Mammografie als Vorsorgeuntersuchung gegenüber einer sorgfältig standardisierten körperlichen Untersuchung der Brust keinen Vorteil hat. Doch in der Praxis ist es viel einfacher, die Untersuchungsmethoden relativ weniger Radiologen zu standardisieren als die Methoden sehr vieler Allgemeinärzte (die zudem wenig Zeit haben). Darum würde ich gerne eine Studie sehen, die unsere heutige Mammografiepraxis mit einer konservativeren Vorgehensweise vergleicht: Wie wäre es, wenn wir eine Mammografie nur als krebsverdächtig einstufen und nur dann eine Biopsie vornehmen würden, wenn die entdeckte Anomalie aller Wahrscheinlichkeit nach ertastet werden könnte (das heißt, größer als etwa einen Zentimeter wäre)? 28
Die Krebsvorsorgeuntersuchung – die gezielte Suche nach Krebs im Frühstadium bei Gesunden – führt zu vielen Überdiagnosen. Doch manchmal stolpern wir auch über ein Karzinom, wenn wir gar nicht danach suchen.
Kapitel 7
Wir stoßen unerwartet auf Inzidentalome, die Krebs sein könnten
Vor ungefähr fünfzehn Jahren rief mich einer meiner Patienten an, weil er heiser war. Das war unüberhörbar – ich erkannte seine Stimme am Telefon fast nicht. Mr. Baker sagte, es gehe ihm gut; nur die Heiserkeit sei lästig. Ich fragte ihn, wie lange er schon heiser sei. Als er mir sagte, die Heiserkeit habe vor etwa sechs Wochen begonnen, war ich besorgt. Die Dauer der Heiserkeit und das Fehlen anderer Symptome machte Laryngitis (eine Kehlkopfentzündung) oder einen anderen Infekt der oberen Atemwege unwahrscheinlich. Zwar hatte Mr. Baker vor rund drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber er war viele Jahre lang Raucher gewesen. Diese beiden Tatsachen deuteten auf Krebs der Stimmbänder oder, schlimmer noch, auf Lungenkrebs hin. Lungenkrebs erfasst oft auch die Lymphdrüsen nahe der Brustkorbmitte. Der Nerv, der zu den Stimmbändern führt, windet sich sogar vom Gehirn nach unten bis zu einem Punkt in der Nähe dieser Lymphdrüsen, bevor er eine Drehung nach oben zu den Stimmbändern macht. Wenn Krebszellen die Drüsen anschwellen lassen, können sie den Nerv einklemmen, der dann die Stimmbänder lähmt und Heiserkeit verursacht.
Einer der Vorteile eines kleinen Krankenhauses wie White River Junction besteht darin, dass die Ärzte ziemlich leicht miteinander kommunizieren können. Und zufällig war das Büro des Hals-Nasen-Ohren-Arztes nur wenige Türen von meinem entfernt. Nach dem Telefongespräch mit Mr. Baker ging ich zu meinem Kollegen, berichtete ihm von meinem Patienten und bat ihn, sich dessen Stimmbänder anzuschauen. Er war einverstanden und vereinbarte einen Termin mit Mr. Baker. Als er einige Tage später die Stimmbänder untersuchte, fand er einen kleinen Tumor, den er biopsieren ließ. Es gab keinen Zweifel – mein Patient hatte Stimmbandkrebs. Aber der Krebs befand sich im Frühstadium; er hatte sich noch nicht im Hals ausgebreitet. Durch die Biopsie war sogar schon der größte Teil entfernt worden. Mr. Bakers Heiserkeit legte sich fast sofort. Er wurde kurz bestrahlt und gebeten, sich wieder zu melden, falls die Heiserkeit zurückkehrte. Und das wäre es gewesen, wenn nicht jemand noch eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs angefordert hätte.
Manche Ärzte mögen nun einwenden, dass Mr. Bakers Brustkorb auf jeden Fall geröntgt werden musste, weil die Möglichkeit eines
Weitere Kostenlose Bücher