Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
der Ansicht, dass das bei weniger als einem Drittel der Fall ist. 24 Die klinische Realität aber sieht so aus: Wir behandeln DCIS fast ebenso aggressiv wie den invasiven Brustkrebs.
Nur eine der zehn randomisierten Studien zur Mammografie liefert Informationen darüber, ob es sich lohnt, winzige Brustkarzinome wie DCIS aufzuspüren: die zweite kanadische Studie, an der sich Frauen im Alter von fünfzig bis neunundfünfzig Jahren beteiligten. Bei den Mitgliedern der Kontrollgruppe wurde die Brust jedes Jahr klinisch untersucht. Dabei handelte es sich um eine sehr gründliche Untersuchung, die sorgfältig standardisiert wurde, fünf bis fünfzehn Minuten dauerte und meist von speziell ausgebildeten Krankenschwestern vorgenommen wurde. Die Mitglieder der Interventionsgruppe wurden einmal jährlich nach den gleichen Standards klinisch untersucht und unterzogen sich zusätzlich einer Mammografie. Hier wurde also in Wirklichkeit der zusätzliche Nutzen der Mammografie im Vergleich zur gründlichen klinischen Untersuchung getestet. Mit anderen Worten: Die Forscher prüften, ob die Entdeckung von nicht tastbaren Anomalien einen zusätzlichen Nutzen hat. Es gab jedoch keinen Unterschied bei der Brustkrebssterblichkeit in den beiden Gruppen. Meiner Meinung nach erteilt uns diese kanadische Studie eine wertvolle Lektion: Die Diagnose von Brustkarzinomen, die so klein sind, dass man sie nicht ertasten kann – so wie die meisten DCIS –, hat keinen offensichtlichen Nutzen.
Wichtig ist, dass Überdiagnosen sich nicht auf DCIS beschränken. Es gibt auch Überdiagnosen beim invasiven Brustkrebs. Vor einigen Jahren traf ich zwei norwegische Forscher, die sich eine sehr elegante Studie ausgedacht hatten, um dieses Problem zu untersuchen. 25 Sie verglichen zwei Gruppen von Frauen, die in denselben Verwaltungsbezirken lebten und fünfzig bis vierundsechzig Jahre alt waren, in zwei aufeinanderfolgenden sechsjährige Perioden. Eine Gruppe, die aus 109 784 Frauen bestand, wurde von 1992 bis 1997 beobachtet. Gegen Ende der Periode wurden fast alle einmal geröntgt, da das nationale Vorsorgeprogramm 1996 begann. Diese Gruppe war die Kontrollgruppe. Die zweite Gruppe, die aus 119 472 Frauen bestand, wurde von 1996 bis 2001 beobachtet. Allen wurden drei Mammografien (alle zwei Jahre eine) als Teil des nationalen Programms angeboten, und fast alle nahmen daran teil. Diese Gruppe war die Testgruppe.
Die Wissenschaftler erwarteten, in beiden Gruppen ungefähr gleich viel invasive Brustkarzinome zu finden, entweder am Ende der Periode oder früher. Abbildung 6.3 zeigt, was tatsächlich geschah: Bei den Frauen, die regelmäßig geröntgt wurden, war die Zahl der invasiven Brustkarzinome um 22 Prozent höher: 1909 von 100 000 Frauen erkrankten daran. Von den Frauen, die nicht regelmäßig zur Mammografie gingen, erkrankten 1564 an invasivem Brustkrebs. Obwohl es sich nicht um eine randomisierte Studie handelte, waren sich die Frauen in jeder Hinsicht erstaunlich ähnlich, abgesehen davon, dass die Mitglieder der Kontrollgruppe nur einmal geröntgt wurden, nämlich gegen Ende der sechs Jahre, während die Mitglieder der Interventionsgruppe im Laufe von sechs Jahren dreimal geröntgt wurden. Nach Ansicht der norwegischen Forscher – die ich teile – wurden durch die Mammografie während der Interventionsjahre einige invasive Brustkarzinome entdeckt, die bis zur abschließenden Mammografie verschwunden wären. Mit anderen Worten: Manche invasive Brustkarzinome bilden sich anscheinend zurück.
Überdiagnosen, sei es bei DCIS, sei es beim invasiven Krebs, sind ein echter Nachteil der Mammografie. Die betroffenen Frauen werden wegen Brustkrebs behandelt. Die Überdiagnose ist ein wichtiger Grund dafür, dass Frauen, die regelmäßig zur Mammografie gehen, nicht seltener, sondern häufiger operiert werden als Frauen, die sich am Mammografieprogramm nicht beteiligen. Aber betrachten Sie noch einmal Abbildung 6.2; sie spiegelt nicht nur Überdiagnosen wider. Die Zahl der Frauen, die an Brustkrebs sterben, geht zurück – seit 1990 um etwa 25 Prozent. Das ist eine gute Nachricht. Dank der randomisierten Studien wissen wir, dass die bessere Therapie ein wichtiger Grund für diesen Rückgang ist. Wirksam sind vor allem Tamoxifen und ähnliche Östrogenrezeptormodulatoren, die das Sterberisiko bei Brustkrebspatientinnen nachweislich um 30 Prozent verringern. Aber auch die Früherkennung spielt wahrscheinlich eine Rolle, besonders die Mammografie.
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