Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
dass die übergroße Mehrzahl aller Inzidentalome auf Überdiagnosen beruht. Das ist eine gute Frage. Zunächst einmal wissen wir, dass es viel mehr radiologische Anomalien – das Reservoir für Inzidentalome – gibt als Menschen, die an den jeweiligen Karzinomen sterben. Weil der Unterschied so groß ist, können wir daraus schließen, dass eine Anomalie (zum Beispiel ein kleiner Knoten) sich extrem selten zu einem tödlichen Krebs entwickelt. Wir können sogar damit beginnen, die obere Grenze dieses Risikos zu berechnen, das höchstmögliche Risiko, und uns dabei auf versicherungsmathematische Daten aus dem 17. Jahrhundert stützen. 5 Wenn wir annehmen, dass die Zahl der Menschen, die an einer bestimmten Krankheit sterben, konstant bleibt, steht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mensch, bei dem die Anomalie entdeckt wird, eines Tages daran sterben wird, in umgekehrtem Verhältnis zur Zahl der entdeckten Anomalien. Angenommen, 10 Prozent der Bevölkerung sterben am Krebs X und 10 Prozent der Bevölkerung haben Inzidentalome, die auf Krebs hindeuten. Dann ist es durchaus plausibel, dass jeder, bei dem dieses Inzidentalom vorhanden ist, daran stirbt:
Nun stellen wir uns vor, dass wir mehr Inzidentalome finden. Immer noch sterben 10 Prozent der Bevölkerung am Krebs X. Aber jetzt nehmen wir an, dass 50 Prozent der Bevölkerung Inzidentalome haben, die auf Krebs X schließen lassen. Plötzlich ist es nicht mehr plausibel, dass jeder mit diesem Inzidentalom daran sterben könnte. Tatsächlich könnten höchstens 20 Prozent der Menschen mit dem Inzidentalom daran sterben:
Auf der Grundlage dieser Berechnungen können Sie aus Tabelle 7.1 ablesen, wie hoch das geschätzte höchstmögliche Risiko eines durchschnittlichen Fünfzigjährigen ist, innerhalb von zehn Jahren an verschiedenen Inzidentalomen zu sterben. 6
Tabelle 7.1 Risiko für einen durchschnittlichen 50-Jährigen, dass ein Inzidentalom ein tödlicher Krebs ist 7
Anteil der Menschen mit einem Inzidentalom auf dem CT-Bild
10-Jahres-Risiko für Krebstod
Höchstmögliches Risiko, dass das Inzidentalom ein tödlicher Krebs ist
Wahrscheinlichkeit, dass das Inzidentalom kein tödlicher Krebs ist
Organ
(a)
(b)
(c = b/a)
(d = 1-c)
Lunge
50 %
1,80 %
3,60%
96,40%
(Raucher)
Lunge
15 %
0,10 %
0,70%
99,30%
(Nichtraucher)
Niere
23 %
0,05 %
0,20%
99,80%
Leber
15 %
0,08 %
0,50%
99,50%
Schilddrüse
67 %
0,01 %
<0,01 %
>99,99 %
(Ultraschalldiagnose)
Mit Ausnahme der Lungenknoten bei Rauchern können weniger als 1 Prozent dieser Inzidentalome tödliche Karzinome sein. In über 99 Prozent aller Fälle brauchen wir also nichts zu unternehmen.
Natürlich sind das nur Schätzungen. Vor allem die zweite Spalte (sie nennt den Anteil der Menschen mit Inzidentalomen) unterscheidet sich von Gruppe zu Gruppe. Diese Daten stammen im Wesentlichen aus einer Studie, an der über tausend Menschen beteiligt waren, die sich einer Ganzkörper-CT unterzogen. 8 Die Daten werden sich in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterscheiden, besonders in unterschiedlichen Altersgruppen (Inzidentalome kommen zunehmend häufiger vor, wenn wir altern, und auch das Risiko, daran zu sterben, nimmt zu). Und da wir mehr Inzidentalome finden, wenn wir intensiver nach ihnen suchen, hängen diese Zahlen auch von der Gründlichkeit der Radiologen ab.
Die dritte Spalte enthält Daten über das Sterberisiko eines Durchschnittsamerikaners innerhalb von zehn Jahren, abgesehen davon, dass beim Lungenkrebs zwischen Rauchern und Nichtrauchern unterschieden wird. 9 Vielleicht fragen Sie nun, ob ein Inzidentalom auch nach zehn Jahren noch zum Tod führen kann. Doch selbst wenn wir einen Zeitrahmen von zwanzig Jahren wählen (und wieder zwischen Rauchern und Nichtrauchern unterscheiden) würden, könnten weniger als 2 Prozent dieser Inzidentalome metastasieren und sich zu einem tödlichen Krebs entwickeln.
Berechtigt wäre auch die Frage, warum die Daten in Tabelle 7.1 die höchstmöglichen Schätzungen wiedergeben. Die Berechnungen gehen davon aus, dass alle tödlichen Karzinome sich aus Inzidentalomen entwickeln, die ein Jahrzehnt früher sichtbar waren. Das ist eindeutig unzutreffend. Mit der Zeit können sich andere Inzidentalome bilden und irgendwann zum Krebstod führen. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit noch mehr, dass ein bestimmtes Inzidentalom ein tödliches Karzinom ist. 10
Die obigen Zahlen sind demnach Schätzungen; aber sie vermitteln dennoch eine Vorstellung von der
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