Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
Vom Netzwerk:
erkrankt zu sein. Einer meiner Patienten lässt sich seit Jahren alle sechs Monate röntgen, weil auf einem Röntgenbild seines Brustkorbs, das angefertigt wurde, als er Lungenentzündung hatte, ein Knötchen zu sehen war. Er macht sich ständig Sorgen wegen dieses »Flecks auf meiner Lunge«. Es ist mir nicht gelungen ihm (oder seinen Fachärzten) diese Nachuntersuchungen auszureden, mit denen man feststellen will, ob der Knoten wächst, die jedoch eine unerwünschte Nebenwirkung haben: Sie vergrößern die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass irgendwann ein zweites Inzidentalom gefunden wird. Diese Vorgehensweise kommt mir deshalb besonders unvernünftig vor, weil der Patient an einem schweren Emphysem leidet, einer Lungenkrankheit, die eine Operation unmöglich machen würde, wenn man bei ihm irgendeinen Krebs fände. Immerhin will niemand den nächsten Schritt wagen – eine Biopsie des Knotens –, und zwar ebenfalls wegen seines Emphysems. Aber viele Patienten mit Knoten werden biopsiert.
    Leider ist die Lunge eines der Organe, die am schwierigsten zu biopsieren sind. Man sticht eine Nadel durch die Brustwand oder schiebt ein Fiberendoskop in die Luftröhre. Beide Methoden sind mit der Gefahr verbunden, dass die Lunge punktiert wird, was katastrophale Folgen haben kann, vor allem bei einem schweren Emphysem. Aber wir wissen, dass das Röntgen des Brustkorbs im Rahmen einer Lungenkrebsvorsorge mehr schadet als nützt 16 – darum empfiehlt es niemand und darum tun wir es nicht. Warum führen wir dann so viele Nachuntersuchungen wegen eines Inzidentaloms in der Lunge durch, im Bemühen, Lungenkrebs zu heilen? Wenn wir wissen, dass Röntgenvorsorgeuntersuchungen im Allgemeinen die Sterblichkeit nicht verringern, warum sollten dann Folgeuntersuchungen eines zufällig entdeckten Lungenknotens wirksamer sein? Wäre es nicht am besten, den Knoten als normal einzustufen?
    Natürlich vereinfache ich hier zu stark. Erstens gibt es in der realen Welt rechtliche Probleme: Ärzte werden nicht für Überdiagnosen bestraft, wohl aber für nicht gestellte Diagnosen. Darum fällt es Ärzten schwer, Inzidentalome zu ignorieren. Zweitens wissen wir oft nicht, ob ein Befund wirklich ein Zufallsbefund ist. Es ist nicht immer klar, dass ein Symptom keinen plausiblen Zusammenhang mit einem Befund hat. Manche Befunde sind zweideutig. Wenn die Annahme vernünftig ist, dass ein Zufallsbefund mit einem Symptom zusammenhängt, ist die Chance größer, dass der Patient von weiteren Untersuchungen profitiert (und die Gefahr einer Überdiagnose wird geringer). Außerdem ist eine bessere Feinabstimmung möglich. Wir könnten kleinere, weniger beunruhigende Inzidentalome ebenso ignorieren wie jene, die wir bei Patienten finden, die wahrscheinlich an einer anderen Krankheit sterben werden (zum Beispiel ältere Patienten oder mein Patient mit dem schweren Emphysem). Wenn wir größere, besorgniserregendere Inzidentalome bei Patienten mit höherer Lebenserwartung finden, könnten wir handeln, wenn auch umsichtig (zum Beispiel, indem wir sie beobachten und nach Anzeichen für ein Wachstum Ausschau halten, bevor wir zu drastischeren Maßnahmen greifen).
    Immer mehr Ärzte bekennen sich dazu, dass es meist umsichtiger ist, Inzidentalome zu beobachten, als sie sofort operativ zu entfernen. Zur Zeit werden sogar Leitlinien erstellt, die genau das empfehlen, wenn ein Inzidentalom auf Lungen- oder Nierenkrebs hinweist. 17 Ich glaube, wenn wir auf Inzidentalome weniger aggressiv reagieren würden, wäre den Patienten damit mehr gedient.
    Die meisten Überdiagnosen sind die Folge bewusster Entscheidungen. Eine Organisation ändert die Grenzwerte, die festlegen, was anormal ist, eine andere empfiehlt Vorsorgeuntersuchungen, oder ein Arzt sucht nach einer Erklärung für ein Symptom und schickt einen Patienten zur CT. Niemand plant, ein Inzidentalom zu finden. Es ist einfach eine Nebenwirkung hochauflösender bildgebender Verfahren. Viele Ärzte halten es für richtig, Grenzwerte zu senken, um Krankheiten zu diagnostizieren, oder sie sind entschiedene Befürworter der Früherkennung; aber ich kenne keinen, der die Entdeckung von Inzidentalomen für einen großen Fortschritt hält. Den meisten Ärzten sind sie lästig. Viele begreifen, dass sie zu einem echten Problem geworden sind.
    Dennoch erinnern sich manche Ärzte auch an einen oder zwei Fälle, in denen sie und ihre Patienten davon überzeugt waren, dass die Entdeckung eines Inzidentaloms ein Leben

Weitere Kostenlose Bücher