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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Größenordnung des Problems, vor dem Radiologen und andere Ärzte stehen, wenn sie Inzidentalome entdecken.
Wie ging es mit Mr. Baker weiter?
    Ich sprach mit mehreren Ärzten über Mr. Bakers Nieren-Inzidentalom. Im Gegensatz zu den meisten anderen Krebsarten werden Nierenkarzinome nicht immer biopsiert, weil die Schichtbilder uns meist sagen, was wir wissen wollen. Und aufgrund der Bilder, die wir von Mr. Baker hatten, waren die Urologen sich darüber einig, dass die Niere entfernt werden musste. Aber der Radiologe und ich waren uns nicht so sicher. Das war in den neunziger Jahren, als in der medizinischen Literatur die ersten Berichte über ein erhebliches Reservoir von Nierenkarzinomen erschienen. Außerdem machten wir uns Sorgen, weil Mr. Bakers andere Niere ziemlich klein war. Dadurch stieg die Gefahr, dass er mit einer Niere nicht zurechtkommen würde.
    Ich sprach mit Mr. Baker über das Dilemma. Statt für die Entfernung seiner Niere – das ist eine große Operation, bei der 2 Prozent der Patienten sterben 11 – entschieden wir uns lediglich dafür, sein Inzidentalom im Auge zu behalten. Das war gewiss nicht die übliche Vorgehensweise, schon gar nicht damals. Ehrlich gesagt fiel die Entscheidung Mr. Baker leichter als mir und Dr. Woloshin, der ihn in meinem Forschungsjahr betreute. Wir ließen seine Niere alle sechs Monate röntgen. Auf einigen Schichtaufnahmen sah es so aus, als wäre das Inzidentalom ein wenig gewachsen. Ich erinnere mich daran, dass die Radiologen es mit ihren Greifzirkeln maßen und erklärten, es sei möglicherweise einen halben Zentimeter größer. Auf anderen Bildern schien es überhaupt nicht gewachsen zu sein.
    Vor ein paar Jahren starb Mr. Baker. Ich nahm an der Autopsie teil, die bestätigte, dass eine ausgedehnte Lungenentzündung die Todesursache gewesen war. Am meisten interessierte mich jedoch seine Niere. Die fünf Zentimeter große Geschwulst, die wir auf dem Schichtbild gesehen hatten, war jetzt mit bloßem Auge erkennbar. Nachdem der Pathologe sie unter dem Mikroskop studiert hatte, war die Diagnose einfach: Nierenkarzinom. Der Pathologe untersuchte Gewebeproben aus der ganzen Leiche, auch aus dem Gehirn, fand aber keinen Krebs außer dem in der Niere. Mr. Baker hatte laut Diagnose etwa ein Jahrzehnt lang mit Nierenkrebs gelebt, aber er wurde nie deswegen behandelt, litt nie an Symptomen von Nierenkrebs und starb nicht an Nierenkrebs. Er war Opfer einer Überdiagnose geworden.
    Ich bin froh, dass er nie behandelt wurde. Es wäre eine große Operation gewesen, die möglicherweise sein Leben verkürzt hätte. Aber ich wünschte, sein Brustkorb wäre nie geröntgt worden; denn das Röntgenbild hatte zur Entdeckung seines Inzidentaloms geführt. Deswegen hatte er sich viele Jahre lang alle sechs Monate einer CT unterzogen und, wichtiger noch, zehn Jahre lang unnötig Angst gehabt.
Nierenkrebs – das größere Bild
    Was Mr. Baker widerfahren ist, kommt in den Vereinigten Staaten immer häufiger vor – so oft, dass es in den landesweiten Daten sichtbar wird. Abbildung 7.1 zeigt die SEER-Daten für Nierenkrebs.
    Diese Grafik sollte Ihnen inzwischen vertraut vorkommen. Aber etwas ist hier anders. Dieses Bild ist nicht das Produkt von Vorsorgeuntersuchungen auf Nierenkrebs, sondern das Produkt vieler Tomografien anderer Körperteile – meist des Brustkorbs, des Bauchraumes oder des Beckens–, bei denen Nierenkrebs entdeckt wurde. Mit anderen Worten, es spiegelt die Epidemie von Inzidentalomen wider.

    Abbildung 7.1 Neue Nierenkrebsdiagnosen und Todesfälle in den Vereinigten Staaten von 1975 bis 2005
    Immer mehr Mediziner erkennen, dass Nierenkrebs überdiagnostiziert wird. Eine Studie untersuchte im Jahr 2009, wie schnell dreiundfünfzig Nierenkarzinome wuchsen. Die Forscher stellten fest, dass die Tumore sich sehr unterschiedlich entwickelten. 12 Sieben (14 Prozent) wurden sogar kleiner – sie bildeten sich zurück. Einundzwanzig (40 Prozent) wuchsen so langsam, dass sie mehr als sechs Jahre gebraucht hätten, um ihre Größe zu verdoppeln. Das bedeutet, dass beispielsweise ein Tumor, der einen Zentimeter groß ist, länger als zwölf Jahre benötigen würde, um vier Zentimeter groß zu werden. Wichtig ist hierbei, dass diese langsam wachsenden Tumore bei älteren Menschen häufiger vorkamen. Ein erheblicher Teil der Nierentumore beruht also auf Überdiagnosen, entweder weil der Tumor überhaupt nicht wächst, oder weil er so langsam wächst, dass er keine Symptome

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