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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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verursacht und der Patient an anderen Krankheiten stirbt. Informationen wie diese haben Urologen kürzlich zu der Empfehlung bewogen, kleine Nierenkarzinome nicht sofort zu behandeln, sondern mithilfe regelmäßig angefertigter CT-Schichtaufnahmen zu beobachten, um herauszufinden, ob sie schnell genug wachsen, um eine Behandlung zu rechtfertigen. 13
    Dies ist eindeutig ein Schritt in die richtige Richtung; aber ich bin nicht sicher, ob die Beobachtung von Inzidentalomen immer die richtige Maßnahme ist. Ich glaube, wir müssen eine wichtigere Frage stellen: Sollen Radiologen sie überhaupt als Anomalien bezeichnen? Sobald sie dies tun, setzen sie einen Kreislauf in Gang: mehr Untersuchungen, mehr Angst, mehr Kosten und vor allem mehr Schaden. Und das alles sehr wahrscheinlich ohne Nutzen. Zwar scheint die Situation hier ein wenig anders zu sein, als wenn es darum geht, Diabetes oder Bluthochdruck anhand von Zahlen zu definieren; dennoch stehen wir vor der gleichen grundlegenden Frage: Was ist anormal? Mediziner legen fest, wann der Blutdruck, der Cholesterinspiegel und der Blutzuckerspiegel zu hoch sind; also sollten Radiologen entscheiden, welche Anomalien von Bedeutung sind, anstatt jede einzelne zu melden. Da wir ständig über Inzidentalome stolpern, lohnt es sich auf jeden Fall, darüber nachzudenken.
    Meiner Meinung nach sollten wir Inzidentalome als einfache Funde anlässlich einer Vorsorgeuntersuchung betrachten. Wir untersuchen zwar absichtlich, während die Inzidentalome Zufallsfunde sind, aber das ist der einzige Unterschied. Der Patient hat keine Krebssymptome. Deshalb sollten unsere Erkenntnisse über die Früherkennung den Radiologen sagen, wie sie mit Inzidentalomen umzugehen haben. Um zu verstehen, was ich meine, nehmen wir einmal an, Sie entdecken ein Inzidentalom und fragen sich: »Was ist für den Patienten am besten?« (In dieser Übung sollten Ärzte so tun, als lebten sie in einer Fantasiewelt ohne Anwälte.) Lassen Sie mich diese Frage in drei verschiedenen Situationen beantworten:
1. Wir wissen, dass die Vorsorgeuntersuchung die Krebssterblichkeit senkt: Das ist einfach – hier liegt eine Anomalie vor, und ich behandle sie. Wir wissen, dass die Brustkrebsfrüherkennung die Brustkrebssterblichkeit verringert (zumindest bei älteren Frauen). Das heißt, wenn ich in der Brust eine Anomalie entdecke, die nach Krebs aussieht, informiere ich die Patientin, erörtere das Für und Wider mit ihr und ermögliche ihr auf diese Weise eine vernünftige Entscheidung. Hier winken echte Vorteile. Doch leider ist dies kein typischer Fall.
2. Wir kennen den Wert der Vorsorgeuntersuchung nicht: Das ist schwierig, und es kommt darauf an, wo die Beweislast liegt. Man könnte von einer Anomalie sprechen, den Patienten davon unterrichten und mit ihm gemeinsam entscheiden (manche würden sagen, dass Ärzte auf diese Weise schwierige Entscheidungen vermeiden). Aber in diesem Fall haben wir einen Teil des Schadens bereits angerichtet: Der Patient fürchtet, Krebs zu haben. 14 Da Radiologen meiner Meinung nach verpflichtet sind, den Nutzen der Diagnose zu beweisen, sollten sie ernsthaft überlegen, Inzidentalome dieser Kategorie zu ignorieren, weil sie sehr wahrscheinlich nicht wichtig genug sind, um in einem Bericht erwähnt zu werden.
3. Wir wissen, dass die Vorsorgeuntersuchung die Sterblichkeit nicht reduziert: Ich finde, das ist ebenfalls einfach – ignorieren Sie den Befund. Bezeichnen Sie ihn nicht als Anomalie, sondern nennen Sie ihn normal. Schützen Sie den Patienten vor Überdiagnose und Überbehandlung. Erwähnen Sie den Befund im radiologischen Bericht nicht, und erwähnen Sie ihn auch nicht gegenüber der Allgemeinärztin, damit diese sich nicht verpflichtet fühlt, den Patienten zu informieren. Wie Grenzfälle von hohem Blutzucker, hohem Cholesterinspiegel oder Bluthochdruck könnte der Radiologe entscheiden, dass ein Inzidentalom schlicht zu klein ist, um eine Erwähnung zu verdienen.
    Ich hoffe, Sie verstehen inzwischen meine Gründe für diese letzte Antwort. Und ich hoffe, sie hört sich absolut vernünftig an. Aber Sie sollten auch wissen, dass sie radikale Folgen für unseren derzeitigen Umgang mit dem häufigsten Inzidentalom hätte: dem Knoten auf einem Röntgenbild des Brustkorbs.
    Die Diagnose »Lungenknoten« wird jedes Jahr bei Hunderttausenden von Amerikanern gestellt. 15 Sie löst eine Flut von weiteren Röntgenuntersuchungen aus. Wichtiger noch, sie ängstigt den Patienten, an Lungenkrebs

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