Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
rettete. Diese dramatischen Anekdoten erschweren jede Veränderung noch mehr. Wichtiger noch, solche Geschichten berücksichtigen die Alternativen nicht: Der Patient könnte trotzdem an dem Krebs sterben; der Krebs wäre vielleicht ebenso gut behandelbar gewesen, wenn er klinisch aufgefallen wäre; oder der Krebs hätte nie einer Behandlung bedurft – das Problem der Überdiagnose. Die Wahrheit ist: Es fällt uns sehr schwer, etwas zu ignorieren, was wir entdeckt haben, selbst wenn dies die richtige Entscheidung wäre. Aber diese Entscheidung würde einen enormen gesellschaftlichen und gerichtsmedizinischen Wandel voraussetzen. Es ist viel einfacher, einen Patienten gar nicht erst zu untersuchen. Natürlich ist es möglich, auf eine Vorsorgeuntersuchung zu verzichten. Aber wir können keinesfalls alle diagnostischen Untersuchungen vermeiden, und niemand will das (allerdings könnten wir sicherlich sorgsamer mit ihnen umgehen). Und solange wir diagnostische Scans vornehmen, müssen wir uns mit dem Problem der Inzidentalome auseinandersetzen.
Die Patienten könnten uns dabei helfen, wenn sie vom Scannen im Allgemeinen etwas weniger begeistert wären. Vor allem sollten sie auf Ganzkörper-Scans verzichten, weil diese eine Pandorabüchse voller Inzidentalome öffnen können. Auch mit anderen Scans könnten sie ein wenig zögerlicher umgehen und, wenn sie die Wahl haben, eine Untersuchung verlangen, die sich möglichst präzise auf eine bestimmte Körperregion beschränkt, um Zufallsfunde außerhalb dieses Bereichs zu vermeiden. Bei einer Darmspiegelung wird beispielweise mit einem Kolonoskop nach Krebs im Dickdarm gesucht, nirgendwo sonst. Seit einiger Zeit wächst die Begeisterung für eine virtuelle Darmspiegelung, nicht weil sie besser wäre als die normale, sondern weil sie weniger invasiv ist. Bei der virtuellen Darmspiegelung verwendet man einen CT-Scanner, der hochauflösende Aufnahmen vom Dickdarm macht, aber auch Bilder von der Leber, den Nieren und sogar der Lungenbasis liefert. Und etwa die Hälfte der virtuellen Darmspiegelungen enthüllt Anomalien außerhalb des Dickdarms.
Die große Mehrzahl dieser Inzidentalome ist nicht bösartig. Einige können es sein. Aber wenn wir sie alle abklären, müssen viele Patienten unnötige Ängste, Untersuchungen und Eingriffe erdulden. Das ist nichts weiter als eine andere Dimension des Problems der Überdiagnose.
Kapitel 8
Wir suchen intensiver nach allem Möglichen
Wie apparative Untersuchungen Ihnen (und Ihrem Baby) weitere Probleme bescheren
Unsere Begeisterung für Vorsorgeuntersuchungen geht weit über den Krebs hinaus. Wir forschen nach Anomalien im Herzen und in den Blutgefäßen, nach Stoffwechselstörungen (zum Beispiel Diabetes und Schilddrüsenunterfunktion), nach Osteoporose und sogar nach Anomalien bei Kindern im Mutterleib. Und die Verfahren, die wir anwenden, gehen weit über die Abbildung von Organen hinaus. Sie reichen von ausgeklügelten biochemischen Messungen in spezialisierten Labors bis zur elektronischen Überwachung fundamentaler physiologischer Funktionen. Das Paradigma, das allen diesen Untersuchungen zugrunde liegt, ist jedoch das Gleiche: Wir suchen gründlich, um Anomalien zu entdecken, weil wir glauben, dass Frühdiagnosen – und darauffolgende Behandlungen – die Gesundheit verbessern. Dieses Paradigma ist weitverbreitet, so weit, dass ich unmöglich auf alle Vorsorgeuntersuchungen neben der Krebsfrüherkennung eingehen kann – dafür wäre ein eigenes Buch notwendig. Stattdessen möchte ich an einem Beispiel zeigen, was die moderne Medizin zu bieten hat.
Die Herzfunktion wird gründlich untersucht
Nachdem ich für den öffentlichen Gesundheitsdienst der USA gearbeitet hatte, setzte ich 1985 meine medizinische Ausbildung als Assistenzarzt für innere Medizin in der Klinik der University of Utah fort. Die Klinik war technisch vorzüglich ausgestattet, und ihre kompetenten Herzspezialisten waren im ganzen Land anerkannt. Unmittelbar vor meiner Ankunft hatte die Klinik als Erste das Jarvik-Kunstherz implantiert (obwohl dieses Gerät anfangs auf große Begeisterung und öffentliche Aufmerksamkeit stieß, war es ein Fehlschlag und wurde 1990 vom Markt genommen). Außerdem war sie eines der ersten amerikanischen Zentren für Herztransplantationen. Aber die Technik, an die ich mich am besten erinnere, wurde nicht eingesetzt, um Herzkrankheiten zu behandeln, sondern um sie aufzuspüren.
Seit mehr als fünfzig Jahren studieren die Ärzte
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