Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
dieser Klinik den Herzrhythmus mithilfe von Elektrokardiogrammen (EKGs). EKGs zeichnen die elektrischen Impulse auf, die das Herz zum Schlagen anregen, damit es Blut pumpen kann. Im Laufe der Jahrzehnte wurde die EKG-Elektronik so stark verkleinert, dass wir das Herz eines Patienten überwachen können, während er seinen alltäglichen Verrichtungen nachgeht. Heute ist die Technik derart fortgeschritten, dass das Gerät Daten ständig abspeichert, die wir später am Computer analysieren können und mit denen wir die Muster Tausender von Herzschlägen rasch überblicken.
Während meiner Zeit als Assistenzarzt beteiligte sich die University of Utah an der landesweiten CAST-Studie (Cardiac Arrhythmia Suppression Trial, einer Studie zur Vermeidung von Herzrhythmusstörungen), die knapp über 1700 Patienten nach einem Herzinfarkt überwachte. Manche Menschen leiden nach einem solchen Infarkt an starken Störungen des Herzrhythmus. Ihr Herz schlägt zu schnell oder viel zu langsam oder fällt abwechselnd in beide Extreme. Diesen Patienten geht es nicht gut. Ihr Blutdruck kann jäh absacken und zu einigen weiteren Symptomen führen: Manche fühlen sich schwach oder benommen, andere können nicht sicher stehen, wieder andere verlieren das Bewusstsein oder sterben sogar. Patienten mit einem dieser Symptome durften nicht an der Studie teilnehmen. Die CAST-Studie konzentrierte sich auf Patienten, denen es nach ihrem Herzanfall gut ging. Die Forscher suchten nach Anomalien im Herzrhythmus, von denen die Kranken ohne die Überwachung nie etwas bemerkt hätten. Sie fürchteten, dass symptomlose Herzrhythmusstörungen, vor allem zusätzliche Herzschläge, die Gefahr von tödlichen Rhythmusstörungen vergrößern, und wollten herausfinden, ob eine frühe Diagnose und Behandlung symptomloser Anomalien einen plötzlichen Tod im Jahr nach dem Herzinfarkt verhindern kann.
Obwohl die Wissenschaftler planten, die Patienten zu Hause zu überwachen, begannen sie damit in der Klinik, um das Vorgehen zu standardisieren. Ein Herzinfarktpatient, dem es gut ging und der kurz vor der Entlassung stand, wurde zuerst in eine Spezialabteilung geschickt und an einen kleinen Herzmonitor angeschlossen. Assistenzärzte wie ich hatten die Aufgabe, auf die Daten des Monitors zu reagieren.
Das machte uns verrückt. Die Patienten fühlten sich gut, aber ihre Monitore schlugen andauernd Alarm. Es schien, als litten alle Patienten an Anomalien. Und wir behandelten sie. Wir änderten die Medikation ständig, um das richtige Präparat zu finden und den Rhythmus zu normalisieren. Gelegentlich sah es so aus, als hätten wir damit Erfolg. Meist schienen unsere Bemühungen jedoch fruchtlos zu bleiben. Und manchmal verschlimmerten sie offenbar den Zustand der Patienten. Viele von uns fanden die ganze Sache verrückt.
Das war sie auch. CAST war eine randomisierte Studie. Etwa die Hälfte der Patienten erhielt Placebos. Mit anderen Worten, wir ignorierten im Grunde die Monitorsignale bei etwa 850 Patienten. Das stellte sich als richtig heraus; denn es ging ihnen besser als der behandelten Gruppe. Nach zwei Jahren wurde die Studie abgebrochen, weil klar war, dass die Medikamente tödliche Rhythmusstörungen nicht verhinderten, sondern sogar verursachten. Die Sterblichkeit war bei den behandelten Patienten zweieinhalb Mal so hoch wie in der Placebogruppe. Die Wissenschaftler probierten es erneut. Dieses Mal konzentrierten sie sich auf die schwersten Herzrhythmusstörungen und verwendeten ein anderes Medikament (CAST-II-Studie). Doch wieder starben in der behandelten Gruppe mehr Menschen. 1
Dies war eine der ersten Studien, die Zweifel in mir weckten, ob es richtig ist, intensiv nach Anomalien zu suchen. Wenn Ihr Herzrhythmus so gestört ist, dass Symptome auftreten, sollten Sie eine Diagnose verlangen und sich behandeln lassen. Intensiv nach symptomlosen elektrischen Anomalien im Herzen zu suchen und diese zu behandeln, ist jedoch etwas ganz anderes.
Das Herz ist nicht der einzige Muskel, der von elektrischen Impulsen stimuliert wird. Das Nervensystem benutzt elektrische Impulse, um Kontraktionen der Muskeln im Körper auszulösen. Wir können daher die Aktivität jedes beliebigen Muskels überwachen, auch der Gebärmutter. Deren Wände ziehen sich während des Geburtsvorgangs zusammen. Das ist ein normaler Vorgang, sofern er nicht zu früh beginnt. Frühgeburten sind eine der Hauptursachen für Krankheiten, Verletzungen und Todesfälle bei Kleinkindern. Da in den
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