Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
– außer in ihrer Entscheidung für oder gegen die Mammografie – und selbst wenn diese Zahlen aus einer randomisierten Studie stammen würden, wäre der Unterschied in der Überlebensdauer kein Beweis für den Nutzen der Mammografie. Nehmen wir an, bei 1000 Frauen wurde vor fünf Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Wenn heute noch 820 dieser Frauen leben, sind das 820 dividiert durch 1000, also 82 Prozent. Wenn heute noch 940 dieser Frauen leben, sind das 940 dividiert durch 1000, als so 94 Prozent. Aber selbst wenn die Mammografie die Zahl der Überlebenden nach fünf Jahren von 82 auf 94 Prozent vergrößert hat, wie der Artikel behauptet, ist es durchaus möglich, dass keine Frau, die zur Mammografie ging, auch nur einen Tag länger lebte, als sie ohne Untersuchung gelebt hätte. Für diesen scheinbaren Widerspruch gibt es zwei Erklärungen. Epidemiologen sprechen von Lead time bias (Verzerrung durch Vorverlegung des Diagnosezeitpunkts) und Überdiagnose-Bias. Beides wird verständlicher, wenn wir ein einfaches Gedankenexperiment machen, bei dem wir zunächst annehmen, dass die Mammografie niemandem hilft, länger zu leben, und zum Schluss nachweisen, dass die Zahl der Überlebenden nach fünf Jahren dennoch steigen kann.
Lead-time Bias
Stellen Sie sich eine Gruppe von Frauen mit Brustkrebs vor, die alle im Alter von neunzig Jahren sterben werden, einerlei, ob die Diagnose bei ihnen anhand einer Mammografie oder auf der Grundlage von klinischen Symptomen gestellt wird. Wenn sie alle die Diagnose im Alter von sechsundachtzig Jahren nach einer Mammografie erfahren, beträgt die Überlebensrate nach fünf Jahren 0 Prozent. Da alle im Alter von neunzig Jahren sterben, lebt jede von ihnen nach der Diagnose nur noch vier Jahre. Nehmen wir nun an, dieselben Frauen haben sich einer Mammografie unterzogen. Dadurch werden Karzinome früher entdeckt, sagen wir zwei Jahre früher (das ist die lead time oder Vorlaufzeit). Jetzt erhalten alle Frauen ihre Diagnose im Alter von vierundachtzig statt sechsundachtzig Jahren. Auf einmal beträgt die Überlebensrate nach fünf Jahren 100 Prozent, obwohl alle Frauen dennoch im Alter von neunzig Jahren sterben. Frühe Diagnosen vergrößern die Überlebensrate (in diesem Fall die Überlebensrate nach fünf Jahren) immer, aber sie verlängern nicht unbedingt das Leben. Dieser Effekt wird Lead-time Bias genannt und ist in Abbildung 10.1 dargestellt.
Natürlich ist das eine Vereinfachung. Ich bin davon ausgegangen, dass die Diagnose bei allen Frauen früh erfolgte, nämlich im Alter von vierundachtzig Jahren. Aber nicht alle müssen die Diagnose früh erhalten, damit der Lead-time Bias zum Tragen kommt. Dafür sind nur ein paar Frauen notwendig, deren Diagnose mehr als fünf Jahre vor ihrem Tod gestellt wird. Dann steigt die Zahl der Überlebenden, selbst wenn kein einziger Todeszeitpunkt hinausgeschoben wird. Eine frühe Diagnose steigert die Überlebenszeit nach dem Diagnosetermin immer; doch in diesem Fall bedeutet die »höhere Überlebenszeit« vielleicht nur, dass die Betroffenen länger über ihren Krebs Bescheid wissen.
Abbildung 10.1 Lead-time Bias – Früherkennung verlängert die Überlebenszeit, aber nicht das Leben
Überdiagnose-Bias
Selbst wenn niemandem das Leben gerettet wird, kann die Überlebenszeit nach einer frühen Diagnose auch dann verlängert sein, wenn Überdiagnosen vorliegen. Wenn bei einer Vorsorgeuntersuchung Anomalien entdeckt werden, die nach der Definition der Pathologen Krebs sind (das heißt, wenn Zellen unter dem Mikroskop wie Krebszellen aussehen), aber nie Symptome oder den Tod verursachen werden, sieht die Überlebensstatistik eindrucksvoller aus. Angenommen, in einer Stadt haben tausend Frauen Symptome von Brustkrebs – jede spürt einen Knoten in der Brust. Fünf Jahre nach der Diagnose sind 700 Frauen am Leben, 300 sind gestorben. Die Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt somit 70 Prozent. Nun drehen wir die Uhr zurück und nehmen an, dass jede Frau in der Stadt zur Mammografie geht. Diesmal wird die Diagnose »Krebs« vielleicht bei 1500 Frauen gestellt: bei den 1000, die Knoten in der Brust spüren, und bei weiteren 500, die Opfer einer Überdiagnose werden. Diese 500 werden in fünf Jahren nicht an Brustkrebs gestorben sein (weil der Tumor nie progressiv war). Trotzdem steigt die Überlebensrate nach fünf Jahren in der Stadt auf 80 Prozent, weil 1200 von 1500 Frauen, die eine Diagnose erhalten, überleben,
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