Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
einschließlich der 500 Frauen, bei denen eine Überdiagnose vorliegt. Aber was hat sich wirklich geändert? Fünfhundert Frauen bekamen grundlos zu hören, sie hätten Krebs (und litten vielleicht unter einer Therapie); aber die Zahl der Toten ist gleich geblieben. In beiden Fällen sind 300 Frauen an Brustkrebs gestorben. Diesen Effekt nennt man Überdiagnose-Bias. Er wird in Abbildung 10.2 dargestellt.
Abbildung 10.2 Überdiagnose-Bias – Wie Überdiagnosen die Überlebensrate erhöhen, ohne ein einziges Leben zu retten
Gemeinsam blähen der Lead-time Bias und der Überdiagnose-Bias die Überlebensstatistik für Frühdiagnosen auf. Und dieser Effekt kann noch viel größer sein als hier dargestellt. Er kann die Überlebensrate nicht nur von 70 auf 80 Prozent erhöhen, sondern auch von 5 auf 90 Prozent. Alles, was wir hierfür brauchen, sind eine lange Vorlaufzeit und viele Überdiagnosen.
In beiden Gedankenexperimenten habe ich etwas unterstellt, um die Zahlen zu vereinfachen: dass die frühen Diagnosen weder nützen noch schaden. Aber Sie sollten wissen, dass diese Verzerrungen unabhängig von den wahren Auswirkungen der Früherkennung auftreten. Wenn die wahre Auswirkung einer frühen Diagnose ein gewisser Nutzen ist, vergrößern beide Verzerrungen diesen Effekt. Ist die wahre Auswirkung aber ein gewisser Schaden (zum Beispiel, weil unnötige Therapien das Leben der Menschen verkürzen), verdecken diese Verzerrungen den Schaden und erwecken vielleicht sogar den Anschein, als sei die Früherkennung vorteilhaft gewesen. 5
An dem angenommenen Zeitraum von fünf Jahren ist übrigens nichts Besonderes. Die beiden Verzerrungen wirken sich auf jede Überlebensstatistik aus, wenn die Messung nach der Diagnose beginnt, einerlei, ob wir das Fazit nach zwei, siebeneinhalb oder zehn Jahren ziehen. 6
Randomisierte Studien: Die einzige Quelle für unverzerrte Daten über den Wert der Früherkennung
Da Vergleiche der Überlebenszeit bei früh und spät entdeckten Krankheiten so irreführend sind, gibt es nur eine einzige zuverlässige Methode, um harte Fakten über den Wert der Früherkennung zu gewinnen: randomisierte Studien, die die Todesrate messen.
Wie Sie wissen, ist eine Studie randomisiert, wenn allein der Zufall bestimmt, welcher teilnehmende Patient behandelt wird und welcher nicht. Wenn Forscher aber wirklich etwas über den Wert der Früherkennung erfahren wollen, gibt es eine kleine Besonderheit: Die teilnehmenden Patienten müssen vor der Diagnose bestimmt werden. In einer randomisierten Studie über die Früherkennung werden völlig gesunde Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder der Interventionsgruppe (Screening-Gruppe) oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Dies geschieht in der Erwartung, dass einige Patienten in der Screening-Gruppe die symptomlose Anomalie aufweisen, nach der wir suchen, und dass sie sich dann behandeln lassen. Die Studie untersucht, wie es der Screening-Gruppe im Vergleich zur nicht untersuchten Gruppe geht.
Eine Zufallsauswahl vor der Diagnose ist die beste Möglichkeit, die Auswirkungen der Früherkennung vollständig zu erfassen. So haben wir die Mammografie, den Test auf verstecktes Blut im Stuhl bei der Dickdarmkrebs-Früherkennung, den PSA-Test bei der Prostatakrebs-Früherkennung und das Screening auf Bauchaortenaneurysmen geprüft. Derzeit prüfen wir auf diese Weise den Wert der Spiral-CT bei der Lungenkrebs-Früherkennung. Diese Studien sind deshalb so nützlich, weil sie prüfen, welche Wirkung wir erzielen, wenn wir intensiver nach Anomalien suchen, und weil sie eine Reihe von Fragen beantworten: Sinkt die Sterberate durch Screening? Welche weiteren Tests und Prozeduren müssen Patienten durchstehen, um herauszufinden, ob ihre früh entdeckten Anomalien ein Problem sind? Welche Nebenwirkungen oder Komplikationen drohen ihnen im Vergleich zu Menschen, die sich nicht an der Vorsorgeuntersuchung beteiligen? Wie viele zusätzliche Diagnosen sind die Folge des Screenings? Mit längeren Anschlussstudien können wir außerdem herausfinden, bei wie vielen Teilnehmern Überdiagnosen vorliegen.
Die Wahrheit ist, dass sehr wenige Screening-Tests, die wir bei symptomlosen Menschen vornehmen, diesen Anforderungen genügen. Das gilt unter anderem für körperliche Routineuntersuchungen, Routinebluttests und bildgebende Verfahren wie die Ganzkörper-CT zur Früherkennung. Es gibt keine randomisierten Studien zum Wert der Früherkennung bei vielen Krebsarten, zum Beispiel beim
Weitere Kostenlose Bücher