Die Dichterin von Aquitanien
verspürte sie ein nervöses Ziehen in ihren Eingeweiden, das sie sich nicht erklären konnte. Der aufmerksame Blick schien seltsam vertraut. Ein fein geschnittenes Gesicht, das etwas breiter und männlicher geworden war. Ein hoher Körper mit den kräftigen Schultern eines Schwertkämpfers.
Es war unmöglich, musste Einbildung sein. Sechs Jahre waren seit der nächtlichen Unterhaltung in Windsor vergangen und sie wusste nicht, wie Jean aus Bordeaux heute aussah. Vermutlich war es nur eine flüchtige Ähnlichkeit, nichts weiter. Lediglich das beharrliche Starren des Fremden irritierte sie. Der schöne Harfenspieler schien auch in
ihrem Gesicht nach vertrauten Zügen zu suchen, blieb länger stehen als die übrigen Auserwählten, bis einer den anderen Musiker ihn anstieß.
»Jean, hör auf die Damen anzugaffen. Wir bekommen ein freies Abendessen und ein weiches Bett für die Nacht. Das muss dir erst einmal genügen.«
Nun ging Jean tatsächlich hinaus. Marie fragte sich, warum ihr das Herz in der Brust so pochte und ihre Handflächen sich feucht anfühlten. Ein großer Troubadour war der ehrgeizige Knabe bisher nicht geworden, doch er begleitete sein Vorbild nun auf der Harfe.
Es war Jean aus Bordeaux gewesen, der ihr damals von Bernard de Ventadorn erzählt hatte. Auf einmal konnte sie sich an jedes Wort der Unterhaltung auf dem Burghof von Windsor erinnern, so als hätte sie erst am Abend zuvor stattgefunden.
Beim abendlichen Gelage verspürte Marie kaum Hunger, obwohl sie niemals in ihrem Leben so köstlich duftende Speisen aufgetischt bekommen hatte wie am Hof von Poitiers. Sie rutschte nur ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Sobald das Hauptgericht abgetragen war, würde der berühmte Bernard de Ventadorn auftreten, und sie konnte sich seinen Harfenspieler genauer ansehen.
»Nach der Erfahrung an diesem Tag würde ich sagen, dass Gott vielen Menschen den Drang zu künstlerischem Schaffen gab, damit sie die Geduld ihrer Mitmenschen auf die Probe stellen«, scherzte Emma bissig. Raoul de Fayes Töchter, beide kaum älter als sechzehn, kicherten ausgelassen.
»Manche dieser Männer besitzen sicher lobenswerte Eigenschaften« fuhr Isabelle de Vermandois fort. »Doch was ihnen fehlt, ist ein winziger Funke von Begabung. Was meint Ihr, Ma Dame Marie, als große Dichterin?«
Marie wurde unwohl, als sich die Augen ihrer Gefährtinnen erwartungsvoll auf sie richteten.
»Ich denke, hinter jeder vermeintlichen Begabung verbirgt sich viel Arbeit und Bemühen«, sagte sie nachdenklich. »Aus einigen jener Männer, die heute versagten, könnten vielleicht dennoch gute Dichter, Musiker oder Sänger werden. Andere trieb vielleicht nur die Not dazu, sich hier öffentlich bloßzustellen, und daher scheint es mir boshaft, über sie zu scherzen.«
Angesichts dieser Ermahnung verzog Isabelle ihr spitzes Gesicht, das Marie stets an ein keckes, niedliches Kätzchen erinnerte.
»Mit meiner klugen Nichte kann man nicht herumalbern, sie ist immer viel zu ernst«, teilte Emma den anderen Mädchen ihre bisherigen Erfahrungen mit.
»Ich finde, sie hat recht. Auch ich hatte Mitleid mit vielen dieser elend aussehenden Gestalten«, kam es nun zaghaft von Marguerite. Marie warf dem Mädchen einen dankbaren Blick zu.
»Du bist unter einem Glücksstern geboren. Die Königinnen dieser Welt scheinen dich alle zu mögen«, flüsterte Emma ihr ins Ohr.
Aliénor unterhielt sich indessen mit den zwei Männern, die nun meist an ihrer Seite anzutreffen waren. Der sehnige, kleine Raoul de Faye mit dem schlauen Blick eines Fuchses schien ihr bevorzugter Gesprächspartner geworden zu sein, denn sie fragte ihn immer wieder über die Lage in Aquitanien aus. An ihrer rechten Seite saß der Graf von Salisbury, ein älterer, stattlicher Herr, der ihnen auf dem Weg nach Poitiers Geleitschutz gegeben hatte und bisher keine Anstalten machte, wieder nach England zurückzukehren. Auch ihm schenkte Aliénor immer wieder ein huldvolles Lächeln, doch verhielt sie sich zurückhaltender und schien
jedes Wort, abzuwägen das sie an ihn richtete. Marie fühlte sich an Jongleure erinnert, die geschickt mit Bällen um sich warfen. Richard schwieg und lauschte. Seine Brüder waren bei ihrem Vater geblieben, aber er gehörte nun endgültig zu Aliénor, die ihm immer wieder liebevolle Blicke zuwarf. Marie war darüber erleichtert, denn sie wollte nicht denken, dass die Königin sich aus reiner Berechnung für den begabtesten ihrer Söhne entschieden hatte.
Dann
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