Die Dichterin von Aquitanien
Palastgang leer geworden war. Zum ersten Mal war die gemeinsame Zeit nicht so kostbar und knapp bemessen, dass sie sich sogleich aufeinander stürzten. In Ruhe verspeisten sie Mahlzeiten und lasen zusammen ein Buch, das die Gräfin de Champagne Marie ausgeliehen hatte. Es stammte von einem jungen Dichter namens Chrétien, der an ihrem Hof in Troies lebte. Wortgewandt und lebendig schilderte er die Geschichte eines Ritters namens
Erec und dessen Gemahlin Enide, die ihn bei seinen ruhmreichen Taten begleitete. Marie staunte, dass hier die Ehe zweier Menschen beschrieben wurde, die einander in Liebe zugetan waren.
Schließlich begann sie, Ovids Kunst der Liebe für Jean zu übersetzen, da er kein Latein verstand. Jenes Buch, das sie immer hatte lesen wollen, gefiel ihr nun viel weniger, denn es entbehrte jener Leidenschaft, die sie inzwischen kennengelernt hatte.
»Wenn Frauen und Männer nur heiraten, um den Wünschen ihrer Familien zu entsprechen, suchen sie ihr Vergnügen eben anderweitig«, meinte Jean gelassen. »So muss es schon im alten Rom gewesen sein.«
Marie nickte. Sie wollte nicht erzählen, wie viel sie darüber bereits wusste.
»Aber Ovid beschreibt die Verführung verheirateter Frauen als eine Art Zeitvertreib junger Männer. Am Ende macht er diesen Zeitvertreib auch noch schlecht«, erwiderte sie missmutig. Dann richtete sie ihren Blick auf Jean, fragte sich plötzlich, ob auch er in ihr nur ein vorübergehendes Vergnügen sah.
»Vielleicht hatte er einfach nur Angst vor seiner eigenen Schwäche. Er wollte kein gewöhnlicher Mensch sein, der die Zuneigung anderer Menschen braucht. Auch bei Hof zeigt niemand sein wahres Gesicht«, erwiderte Jean und klappte das Buch zu. »Ich werde dir etwas auf der Harfe vorspielen. Musik ist anders als Worte, Marie. Sie lügt nicht.«
Sie streckte sich auf dem Laken aus und lauschte der Melodie. Jean war in der Tat kein großartiger Dichter, wie er selbst zugegeben hatte, doch das Spiel auf der Harfe beherrschte er meisterhaft. Während die Töne sanft in ihr Ohr drangen, überkam sie plötzlich der Wunsch nach einem Leben, das nur ihnen beiden gehörte, so wie bei Erec und seiner Enide.
Zu Beginn des neuen Jahres kehrten die Königin und ihre Kinder nach Poitiers zurück. Nur der junge Henry fehlte, da er nun in Westminster weilte. Marie staunte, mit welch ernster, nachdenklicher Miene Aliénor aus ihrer Sänfte stieg. Auch Marguerites Gesicht schien eingefallen. Ein dunkler Schatten lag über der königlichen Familie, als das Gepäck abgeladen wurde und alle in ihre Räume eilten. Marie gelang es, Emma kurz vor der Tür zu ihrem Gemach abzufangen.
»Was ist geschehen?«, fragte sie besorgt. Emmas Gesicht verzog sich spöttisch.
»Thomas Becket ist tot. Unser großer Henri ließ ihn ermorden. Und nun müssen wir uns alle die Haare raufen und trauern.«
Marie wurde kalt, als die Bedeutung dieser Worte allmählich in ihr Bewusstsein sickerte. Einen Erzbischof zu ermorden, war ein unerhörtes Vergehen, selbst für einen König.
»Wie ist das geschehen? War Thomas Becket denn auch in Bures?«
»Nein, Becket war wieder in England«, erzählte Emma, während Jeanne ihre Kisten auspackte. »Er hatte sogar von seinen guten Freunden, dem Papst und König Louis, den Rat erhalten, sich mit Henri zu versöhnen. Doch diesem Sturkopf fiel nichts Besseres ein, als sämtliche Kleriker zu exkommunizieren, die dem König brav gehorcht hatten, während er mit Leidenschaft rebellierte. Es gefiel ihm nicht, dass der Erzbischof von York den jungen König gekrönt hatte, denn diese Aufgabe hätte ihm selbst zugestanden. Aber wie sollte er denn eine Krönung vornehmen, wenn er doch schmollend in Frankreich saß!«
Emma hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und befahl Jeanne, ihnen eine Erfrischung zu besorgen. Dann lehnte sie sich zurück. Ihre Liebe für Klatschgeschichten war wieder erwacht.
»Jedenfalls bekam unser Henri einen Tobsuchtsanfall, als er von dem Verhalten des Erzbischofs erfuhr. Er war krank gewesen, doch der Vorfall brachte ihn blitzschnell wieder auf die Beine und in den Empfangssaal, wo das Abendmahl im Gange war. Er warf mit Geschirr herum und schrie ein paar arme Wichte an, die an alldem völlig unschuldig waren, wie es eben seine liebreizende Art ist. Aliénor versuchte sogar, ihn zu beruhigen. Darin hat sie jahrelange Übung, das muss man ihr lassen. Henri hörte auf zu brüllen, begann stattdessen zu lamentieren, wie er den einfachen Bürgersohn in die
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