Die Dichterin von Aquitanien
Füße, damit ihr besseren Halt in den Steigbügeln habt.«
Widerwillig merkte Marie, dass auch in ihr so etwas wie Hoffnung aufkeimte. Allein die Vorstellung aus der unbequemen Haltung im Sattel befreit zu werden, schien das Leben annehmbar zu machen. Sie durchquerten ein bewachtes Tor, und gleich darauf tat eine neue Welt sich auf, die Marie aus ihrer Erschöpfung riss.
Etliche der Häuser schienen nicht weniger ärmlich als jene in Huguet, doch gab es so viele davon, dass Marie schnell den Überblick verlor. Ihre Stute trottete gemächlich hinter dem Pferd des Ritters her, schlängelte sich durch enge, schmutzige Gassen. Schreiende Straßenhändler, zerlumpte Bettler aber auch einige Herrschaften in wallenden, pelzbesetzten Roben schufen ein buntes, ohrenbetäubendes Getümmel, in dem Marie sich verloren fühlte. Der Horizont war verschwunden, Gebäude hatten ihn verschluckt. Sie erblickte einen steinernen Bau, der in den Himmel ragte. Während ihr Blick an den Wänden emporglitt, verspürte sie plötzlich Schwindelgefühle, als sei sie ein winziges Wesen, das in ungewohnte Höhen stieg. Marie trieb entschlossen die Stute voran, um sich neben den Ritter drängen zu können.
»Was ist das für ein riesiges Gebäude?«, fragte sie, ohne weiter auf ihren Entschluss zu achten, dass Guy de Osteilli keines Wortes würdig war.
»Die Basilika, Demoiselle. Ein Bau zu Ehren unseres himmlischen Herrn, den Abt Suger persönlich weihte.«
Sie musterte kunstvoll verzierte Bögen und steinerne Figuren, die so lebendig schienen, dass sie meinte, sie könnten jeden Moment herabspringen. Wie war es möglich, dass Menschenhände derartige Pracht und Größe schaffen konnten? Plötzlich kam Neugier in ihr auf, der ungeduldige
Drang, mehr von jener Welt zu erfahren, die jenseits von dem Dorf ihrer Kindheit lag. Die Wehmut schwand, denn es schien weniger traurig, das Zuhause zu verlieren, wenn jenseits davon so viel Schönheit und Pracht lagen.
»Es wird bald finster, und wir sollten schnell in die Herberge. In Städten treibt sich des Nachts unfreundliches Gesindel herum«, erklärte der Ritter, diesmal mit einem weniger spöttischen, fast freundlichen Lächeln. »Aber wenn Ihr wollt, sehen wir uns morgen vor der Abreise noch ein bisschen um. Wir müssen ja noch einige Dinge besorgen.«
Zum ersten Mal konnte Marie einem Vorschlag dieses Mannes aus tiefstem Herzen zustimmen. Doch als sie vor der Herberge aus dem Sattel stieg, meinte sie zu Sicheln gekrümmte Beine zu haben. Trotz aller Anstrengung wollten sie nicht mehr den Befehlen ihres Verstandes gehorchen, sondern blieben in der seit vielen Stunden vertrauten Haltung. Unter dem langen Kittel sah man sie glücklicherweise nicht.
Sie speisten in einem lauten, überfüllten Raum. Zunächst schien es Marie befremdlich, unter lauter Fremden zu sitzen, doch wurde sie kaum beachtet. Der Anblick einer gebratenen Hammelkeule löste ein gieriges Knurren in ihrem Magen aus. Sie biss herzhaft zu, spülte das Essen mit zwei Bechern Wein hinunter und merkte, wie die Lider ihrer Augen so schwer zu werden begannen, dass sie immer wieder hinabsanken und es ihr kaum noch gelang, sich aufrecht zu halten. Guy de Osteilli stützte sie sanft, als sie Stufen hochstiegen. Er riet ihr, in warmem Wasser zu baden, bevor sie zu Bett ging, denn ansonsten würden ihre Beine am nächsten Tag zu sehr schmerzen, um sie wieder in den Sattel steigen zu lassen. Marie sank gehorsam in den Zuber, den eine Dienstmagd für sie füllte. Die Gegenwart einiger anderer Frauen, die ebenfalls in dem Zimmer dieser Herberge übernachteten,
störte sie kaum, da sie zu erschöpft war. Aus dem Getuschel entnahm sie, dass es sich um Pilgerinnen handelte, die bereits stolz das Zeichen des heiligen Denis herumzeigten. Marie stand nicht der Sinn nach Gesprächen. Bald schon lag sie unter eine Wolldecke und schlief völlig erschöpft ein, ohne auch nur einen Augenblick über die ungewisse Zukunft nachzugrübeln. Nur die Mähne der Stute schob sich hinter ihre geschlossenen Lider. Und noch im Schlaf spürte sie den Sattel an ihren Schenkeln.
Der nächste Tag begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein. Marie hatte ein üppiges Morgenmahl verzehrt, und als sie aus der Herberge auf die Straße trat, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Guillaumes Tod im Besitz all ihrer Kräfte. Das Ziehen in ihren Beinen war dank dem Bad tatsächlich schwächer geworden und milderte ihren Bewegungsdrang kaum.
»Wohin gehen wir nun?«, wandte
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