Die Dichterin von Aquitanien
mit Wolldecken lag.
»Leg dich am besten hin und ruhe dich ein bisschen aus nach all der Aufregung. Ich werde uns inzwischen ein Abendessen besorgen.«
»Ich kann dir helfen«, bot Marie an, doch ihre Freundin schüttelte den Kopf.
»Ich muss erst einmal auf den Markt, um einzukaufen. Es ist besser, du lässt dich draußen nicht sehen. Man sucht sicher nach dir, und hier in London stehen viele Leute in den Diensten des Königs. Bleib im Haus und verhalte dich still. Morgen wird ein Schiff meines Bruders dich aus der Stadt bringen.«
Marie gehorchte, obwohl sie lieber geschäftig herumgelaufen wäre, als allein mit ihren Gedanken zu sein. Die letzten Tage war ihre ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet gewesen, der Heirat mit Cadell ap Gruffydd zu entkommen, doch früher oder später würde sie sich mit der Frage befassen müssen, wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte.
Marie streckte ihre Glieder auf der Matratze aus, schloss die Augen, und kurz darauf war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.
Stimmengewirr weckte sie. Es musste bereits Abend sein, denn der kleine Raum war in graues Licht getaucht. Sie hörte das tiefe Brummen eines Mannes, dann Hawisas leisere, aber entschiedene Stimme.
»Sie ist meine Freundin, und ich habe versprochen, ihr zu helfen. Du musst sie nur auf dem Fluss bis nach Prittlewell bringen, danach auf ein Schiff schaffen, das nach Frankreich fährt. Gib sie als deine Frau aus, wenn es sein muss. Oder als eine Magd, die zu ihrem neuen Dienstherrn unterwegs ist. Du bist doch sonst nicht um Ausreden verlegen bei deinen Frauengeschichten.«
»Das ist doch etwas völlig anderes«, meinte der Mann nun deutlich lauter. »Warum Kopf und Kragen riskieren wegen einer verwöhnten Hofdame?«
Marie sprang auf und lief empört in das große Zimmer, wo
sich inzwischen Hawisas Familie versammelt hatte. Hawisa war im Begriff, Schüsseln zu verteilen, während ein aufgespießtes Kaninchen über der Feuerstelle briet. Sein Geruch ließ Maries Magen vernehmlich knurren. Mit einem Mal fühlte sie sich schwach und ausgehungert.
»Das ist Marie«, stellte Hawisa sie mit einem Lächeln vor. »Und hier sind mein Vater und meine zwei anderen Brüder, von denen ich schon oft erzählt habe.«
Drei männliche Augenpaare richteten sich auf Marie.
»Damals im Wald bei Windsor, da hat sie mich gerettet«, erklärte der kleine Aelwig hilfsbereit.
Die Blicke wurden dadurch nicht unbedingt freundlicher. Hawisas Vater war zartgliedrig und klein wie seine Tochter. Das bereits ergraute Haar fiel ihm tief in die Stirn, während er sich über die Suppenschüssel beugte.
»Hawisa weiß schon, was sie tut. Sie ist ein kluges Mädchen, ganz wie ihre Mutter«, lautete seine einzige Bemerkung zu der unerwarteten Lage. Die zwei älteren Söhne schienen dies nicht überzeugend zu finden. Sie waren von deutlich höherem Wuchs als ihr Vater und hatten ebenso goldbraune Haarschöpfe wie Aelwig. Das Erbe der verstorbenen Mutter, vermutete Marie.
»Hawisa erwartet von uns, dass wir einer Normannin helfen!«, rief der größte und vermutlich auch älteste Bruder. »Diese Leute haben uns das Land unserer Ahnen geraubt. Deshalb leben wir in Armut und müssen die Waren von gewöhnlichen Händlern über die Themse schiffen. Alles nur wegen dieser Normannen.«
»Sie sollten allesamt wieder nach Frankreich verschwinden, wo sie hingehören«, fügte der jüngere der zwei Hünen hinzu und schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. Die Suppe seines Vaters schwappte über den Schüsselrand. Der kleine Mann verzog
verärgert das Gesicht, sagte aber nichts. Hawisa warf Marie einen entschuldigenden Blick zu und winkte sie heran.
»Es ist jedenfalls unsere Christenpflicht, eine hilflose junge Frau nicht verhungern zu lassen, selbst wenn sie Normannin ist«, meinte sie tadelnd und wies auf einen freien Platz an dem Tisch. Marie setzte sich, dann sah sie den älteren Brüdern in die Augen.
»Ich bin genau das, wovon ihr träumt«, erklärte sie, stolz auf ihr Englisch. »Eine Normannin, die wieder nach Frankreich möchte, wo sie hingehört. Dazu erbitte ich eure Hilfe.«
Eine Weile blieb es still, dann lachte Hawisas Vater plötzlich auf. Aelwigs Gesicht hatte sich zu einem breiten Grinsen verzogen. Hawisa füllte gelassen Maries Schüssel, doch ihre Augen blitzten schelmisch. Die beiden älteren Brüder starrten Marie nur an. Sie hatte das Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben,
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