Die Dienstagsfrauen zwischen Kraut und Rüben
die
Folgen jahrelanger Vernachlässigung: überwucherte Wege, vermooster Rasen,
schiefe Bäume, wild gewachsene Büsche, Gestrüpp und Unkraut, wohin das Auge
blickte. Zwischendrin lagerte überall Baumaterial von den Renovierungsarbeiten.
Den einzigen Lichtblick bildete ein winziges Gemüsebeet, auf dem Kiki schon mal
angefangen hatte, den Traum vom Selbstversorger in die Tat umzusetzen. Caroline
war gerührt über das bescheidene Gärtchen, das Kikis Willen bezeugte, dem
Brachland neues Leben einzuhauchen. Hinter dem Gemüsegarten führte ein
zugewachsener Trampelpfad zum Seeufer. Zur Linken streckten sich die Weiden vom
Möllerbauern aus, zur Rechten konnte man die Fischerhütte erahnen. Dichte
Büsche umringten das Haus. Nur der lange Bootssteg ließ eine Unterkunft in
Seenähe erahnen.
Einmal am Ufer
angekommen, konnte Caroline zum ersten Mal nachvollziehen, warum Kiki sich in
die Sandkrugschule verliebt hatte. Wenn man Natur suchte, hier fand man sie im
Übermaß. Über dem See waberte sanft der Nebel. Die Landschaft glänzte in allen
Schattierungen von Grau und Grün. Für Farbtupfer sorgten alleine das knallrote
Bobby-Car von Greta und ihre bunten Sandförmchen, die auf dem kleinen Stück
Privatstrand lagen. Ein Rundweg führte Wanderer durch baumreiches Gebiet um den
See herum.
Caroline entschied sich
für die linke Runde, die hinter den Kuhweiden direkt in den Wald führte. Sie
trabte vorsichtig an. Der Boden, aufgeweicht von den nächtlichen Regengüssen,
gab unter ihren Füßen nach. Sie trug Kopfhörer und iPhone mit sich. Caroline
schaltete den lokalen Nachrichtensender NDR 1
Mecklenburg-Vorpommern ein. In Telefoninterviews wurde die aktuelle Lage in
Greifswald, Rostock, Wismar, Schwerin und Neubrandenburg beleuchtet. Der
nächtliche Sturm hatte das Land schwer getroffen. Zwischen Wismar-Ost und Kreuz
Wismar hatte ein umgestürzter Sendemast den Verkehr auf der Autobahn zum Erliegen
gebracht, im südlichen Landkreis Mecklenburger Seenplatte war die
Stromversorgung zusammengebrochen, überall gab es Verkehrshindernisse durch
entwurzelte Bäume, verwehte Bauzäune, umgestürzte Plakatwände und abgedeckte
Dächer. An der Küste war ein Frachter, der unter der Flagge Maltas fuhr, in
Seenot geraten, die Feuerwehr war rund um die Uhr im Einsatz, um überflutete
Keller und Straßen leer zu pumpen.
»Im ganzen Sendegebiet
kommt es zu umfangreichen Behinderungen«, erklärte die freundliche Stimme und
empfahl allen Bewohnern des Landes, Ruhe zu bewahren und am heutigen Samstag zu
Hause zu bleiben.
Am Birkowsee herrschte
die Ruhe nach dem Sturm. Ein seltsames Gefühl beschlich Caroline, als sie die
freien Wiesen hinter sich ließ und vom Schlund des Buchenwalds verschluckt
wurde. Das hohe Grün umfing sie wie ein gigantisches Zelt. In dem
naturbelassenen Laubwald standen die Bäume dicht an dicht. Wie eine
geschlossene Armee hatten sie dem Sturm getrotzt. Nur dort, wo der Wind freien
Zugriff auf die Wipfel hatte, lagen Zweige auf dem Boden. Die Landschaft war
vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren durch die enormen Kräfte der Eiszeit
geformt worden. Ein grüner Teppich hatte sich über den sanft gewellten Boden
gelegt. In den Rinnen und Senken, die die Eiszeit geschaffen hatte, staute sich
das Wasser, das in der Nacht heruntergekommen war. Millionen von Pflanzen
überwucherten Tümpel und Waldboden und schufen eine verwunschene
Märchenlandschaft in Grün. Caroline hätte sich nicht gewundert, hinter der
nächsten Biegung Schneewittchen, den sieben Zwergen und Rotkäppchen zu
begegnen. Oder dem bösen Wolf. Da waren sie wieder, die quälenden Gedanken.
Unwillkürlich fiel Caroline Thomas Steiner ein. Die seltsamen Empfindungen vom
Vortag waren noch ganz frisch, das Gefühl, gejagt zu werden, brodelte
unterschwellig weiter. Unbewusst erhöhte Caroline die Laufgeschwindigkeit. Sie
hatte in ihrem Alltag mit Menschen zu tun, vor denen man Angst haben konnte:
Mörder, Gewaltverbrecher, hochkriminelle Serientäter. Im Umgang mit ihrer Verteidigerin
blieben sie in der Regel freundlich und höflich, schließlich war Caroline die
einzige Verbündete, die ihnen geblieben war. Sie war sich nicht sicher, wie
weit dieser anonyme Anrufer wirklich gehen würde. Und warum? In all den Jahren
in der Kanzlei hatte sie niemanden kennengelernt, der aus purer Lust tötete.
Die meisten Morde hatten ihre Ursache in tief empfundenem Unglück.
Caroline versuchte, an
etwas anderes zu denken. Sie konzentrierte sich auf die Stimme
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