Die Dienstagsfrauen zwischen Kraut und Rüben
beobachtet?«
Bevor er antworten
konnte, läutete Ingrid die nächste Phase des Spiels ein: »Es ist Zeit für die
erste Verhandlung. Möchte jemand eine Anklage formulieren?«
Caroline meldete sich
als Erste: »Ich will einen Prozess führen gegen Thomas Steiner.«
Er lachte nur. »Sie
haben den Falschen. Sie fallen auf eine Intrige rein.«
Die Situation erinnerte
Caroline an den Gerichtssaal. Es war ihre Chance, Steiner aus der Reserve zu
locken und zu einer Reaktion zu zwingen. Das Spiel bot ihr die perfekte
Entschuldigung, einige ihrer Gedanken laut auszusprechen.
»Der Werwolf sieht mich
offenbar als Bedrohung«, erklärte Caroline. »Aber ich bin unschuldig.«
Steiner sah ihr direkt
in die Augen: »Unsere Anklägerin Caroline macht ihren Job sehr gut. Aber bevor
man nicht alle Fakten beisammenhat, kann und darf man nicht über Menschen
urteilen.«
»Er versucht mich
anzuklagen, um davon abzulenken, was er selbst auf dem Kerbholz hat«,
antwortete Caroline. »Lasst euch nicht von ihm täuschen.«
Steiner wich keinen
Zentimeter zurück. »Sie ist geschickt. Viel reden kann ein Mittel sein, viel zu
verschweigen.«
Ingrid war der Meinung,
dass genug diskutiert worden war: »Zeit, um abzustimmen. Alle die rechte Hand
nach oben. Ich zähle bis drei. Bei drei müsst ihr auf denjenigen zeigen, von
dem ihr glaubt, dass er der Werwolf ist. Eins…zwei… drei.«
Die Finger waren wie
eine Waffe gerichtet auf den vermeintlich Schuldigen.
Steiner, Eva und Kiki
wiesen auf Caroline, Caroline auf Steiner und Judith auf Kiki.
»Caroline ist tot«,
erklärte Ingrid.
Caroline war draußen.
Sie zeigte ihre Karte. Steiner hatte recht gehabt: Sie war der Werwolf gewesen.
Sie war enttarnt, bevor sie allen Bürgern den Garaus hatte machen können.
Steiner hatte die Partie gewonnen.
Er lehnte sich
zufrieden zurück: »Gar nicht so einfach, Täter und Opfer auseinanderzuhalten«,
sagte er spöttisch zu Caroline.
»Noch eine Runde?«,
fragte Eva, die sich wünschte, der Abend möge nie enden.
»Nicht für mich, ich
bin tot. Todmüde«, sagte Estelle und verschwand im Haus.
Kiki schloss sich ihr
an. Auch Ingrid verabschiedete sich. Caroline zweifelte noch. In diesem Moment
kam der Anruf, auf den sie so lange gewartet hatte. Nora. Es war kurz vor
Mitternacht. Geisterstunde.
46
Caroline hatte sich in die
ruhige Aula zurückgezogen. Mit Nora zu telefonieren verlangte ihre volle
Konzentration. Bei ihrer Angestellten wummerte im Hintergrund laute Musik, die
so klang wie das, was ihr Sohn Vincent bei seinen Partys auflegte. Trotz
Nachhilfestunden vermochte Caroline bis heute kaum zu erkennen, was der
Unterschied zwischen House, Drum ‘n’ Bass und Electro war. Bei Nora wurde das
alles gespielt. Und zwar gleichzeitig.
»Es war eine schwierige
Aufgabe«, gab Nora unumwunden zu. »Steiner ist ein digitaler No-Name: keine
Website, kein Facebook, kein Twitter, kein Ehrenamt, keine Nennung auf einer
Firmenwebsite, keine Unterschrift gegen eine neue Autobahn, die
Flughafenerweiterung oder Sendemasten, keine Leserbriefe, kein gar nichts…«
»Bis dahin war ich auch
schon gekommen«, unterbrach Caroline. Sie wartete ungeduldig darauf, die
angekündigten Neuigkeiten zu hören.
»Was haben Sie gesagt?«,
brüllte Nora.
Ihre Stimme verlor sich
in der Kakophonie aus Gekicher, Gesprächen und Gejohle. Caroline hegte schon
länger den Verdacht, dass das weiße Gesicht, mit dem Nora jeden Morgen zur
Arbeit erschien, nicht nur Schminke, sondern auch Zeichen einer ausgeprägten
Neigung zu nächtlichen Feiern war. Nora schien auf einer Partymeile zu wohnen.
Es musste schon etwas Wichtiges sein, das Nora an diesem Abend davon abhielt,
sich ins Getümmel zu werfen.
»…aber dann der
Volltreffer«, hörte sie Nora sagen. Der Zwischenteil, der in aller
Ausführlichkeit die totlaufenden Spuren beschrieb, war in der allgemeinen
Geräuschkulisse untergegangen.
»Der Hinweis auf das
Schwimmbad, das war der Durchbruch«, sagte sie, wobei der Stolz, mehr
herausgefunden zu haben als ihre Chefin, in ihrer Stimme mitschwang.
»Der Fall Lenny
Fischer«, sagte Caroline. Hatte sie es nicht immer geahnt? Durchs Fenster sah
Caroline Eva und Steiner im vertraulichen Zwiegespräch am Feuer sitzen. Eva
redete, gestikulierte und lachte viel. Beim Sprechen berührte sie seinen Arm.
Und zwischendurch griff sie immer wieder zum Wein. Wo sollte dieser Abend
enden? Es war höchste Zeit, dass sie erfuhren, was Steiner wirklich plante.
»Thomas Steiner war
1973
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