Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
Wahrheit mit grausamer Lebendigkeit in Mallorys Bewusstsein zurück.
    Es schneite auf die spitzen Zelte, und die Cheyenne waren betrunken. Sie heulten und brüllten in einem berauschten Pandämonium, denn die armen Kerle hatten keine reale Vorstellung davon, was Schnaps war; für sie war es ein Gift und ein Inkubus. Sie tanzten und taumelten und schwankten wie die Insassen eines Tollhauses, feuerten ihre Gewehre in den leeren amerikanischen Himmel, und sie fielen auf den gefrorenen Boden, überwältigt von Visionen, zeigten nichts als das Weiße in ihren Augen. Hatten sie einmal angefangen, machten sie stundenlang weiter, bis zur Besinnungslosigkeit.
    Mallory hatte nicht zu der Witwe hineingehen wollen. Er hatte der Versuchung viele Tage lang widerstanden, aber schließlich war die Zeit gekommen, als ihm klar geworden war, dass es seiner Seele weniger schaden würde, wenn er die Sache hinter sich brächte. Also hatte er drei Fingerbreit aus einer der Whiskyflaschen getrunken, billigen schottischen Fusel, der mit den Gewehren über den Atlantik verschifft worden war. Er war in das Zelt gegangen, wo die Witwe zusammengekauert unter ihren Decken vor dem Dungfeuer gesessen hatte.
    Mallory zeigte ihr eine neue Nadel und gab ihr mit unzüchtigen Gebärden zu verstehen, was er wollte. Die Witwe nickte mit der übertriebenen Heftigkeit von jemandem, dem ein Kopfnicken fremd war, und sie schlüpfte in ihr Nest aus Fellen, legte sich auf den Rücken, machte die Beine breit und streckte die Arme nach ihm aus. Mallory kroch zu ihr unter die Decken und machte sich daran. Er hatte gedacht, es würde rasch vorbei sein, und vielleicht ohne viel Scham, aber es war zu seltsam und beunruhigend. Lange Zeit mühte er sich ab, und schließlich begann sie, ihn mit einer kläglichen Scheu anzusehen und zupfte an seinem Bart. Und endlich taute die Wärme, die Reibung und ihr ranziger Tiergeruch etwas in ihm auf, und er ergoss sich in sie, obwohl er das nicht hatte tun wollen. Die drei anderen Male, die er später bei ihr gewesen war, unterbrach er den Koitus kurz vor dem Höhepunkt und vermied das Risiko, die arme Frau zu schwängern. Er bedauerte aufrichtig, dass er es auch nur einmal getan hatte. Aber wenn sie ein Kind erwartete, als die Expedition abreiste, sprach vieles dafür, dass es überhaupt nicht seines war, sondern das eines anderen Mannes …
    Endlich ging Disraeli zu anderen Dingen über, und es wurde leichter. Aber Mallory verließ Disraelis Wohnung in bitterer Verwirrung. Es war nicht Disraelis blumige Prosa, die ihn aufgewühlt hatte, sondern die gewalttätige Macht seiner eigenen Erinnerung. Der vitale Drang war wieder in ihm erwacht, und er fühlte sich unruhig und außerhalb seiner Selbstbeherrschung. Seit Kanada hatte er es nicht mehr mit einer Frau getrieben, und das französische Mädchen in Toronto war so unsauber und schlampig gewesen. Er brauchte eine Frau, irgendein Mädchen vom Land mit festen weißen Beinen und dicken sommersprossigen Armen …
    Sein Rückweg führte ihn zur Fleet Street. Er war kaum auf der Straße, der freien Luft ausgesetzt, als ihm auch schon die Augen zu brennen begannen. In der Menge der dahineilenden Passanten war von Fraser keine Spur zu entdecken. Die Düsternis des Tages war wahrhaft außerordentlich. Es war kaum Mittag, aber die Kuppel von St. Paul war in schmutzigen Nebel gehüllt. Der ölige grau-braune Dunst verbarg die Türme und die großen Reklamebanner von Ludgate Hill. Fleet Street war eine Straßenschlucht, in der das Chaos herrschte. Geratter und Gerassel, Peitschenknallen, brüllende Kutscher, das Fauchen und Pfeifen von Dampf. Die Frauen auf den Gehsteigen gingen halb gebeugt unter rußbedeckten Sonnenschirmen, und Männer und Frauen hielten sich Taschentücher vor Augen und Nase. Männer und Jungen schleppten Koffer und Reisetaschen, und ihre fröhlichen Strohhüte waren bereits schwarz gesprenkelt. Auf der spinnenartigen Eisenbrücke der Bahnlinie nach Dover dampfte ein überfüllter Ausflüglerzug südwärts; seine Wolke aus Kohlenruß und Dampf hing wie eine schmutzige Fahne in der reglosen Luft.
    Mallory betrachtete den Himmel. Der aufsteigende Rauch hatte sich mit der Wolkendecke zu einem undurchsichtigen braun-grauen Dunst vermischt. Da und dort sanken graue Flocken von etwas wie Schnee sanft auf die Fleet Street nieder. Mallory untersuchte eine, die sich auf seinem Jackenärmel niedergelassen hatte: eine seltsame, schlackenartige Flocke aus kristallisiertem Schmutz.

Weitere Kostenlose Bücher