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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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Nordamerikas, seltsam geformte Provinzen mit verwirrenden Namen. Houston überprüfte seinen Rückspiegel und sprach rasch weiter: »Ich kam im amerikanischen Bundesstaat Tennessee zur Welt. Meine Familie war schottischer Abstammung, und wir machten auf unserer kleinen Farm im Grenzland harte Zeiten durch. Und obwohl ich gebürtiger Amerikaner war, fühlte ich wenig Verbundenheit mit der Yankee-Regierung im fernen Washington.« Das Kinotrop zeigte das Porträt eines Indianers, eines mit stierem, wildem Blick starrenden, mit Federn besteckten Eingeborenen, die Wangen gestreift von Kriegsbemalung. »Auf der anderen Seite des Flusses«, sagte Houston, »lebte der mächtige Stamm der Cherokee, ein einfaches, naturverbundenes Volk von ungekünsteltem Seelenadel. Ich fühlte mich mehr zu diesen Menschen hingezogen als zu meinen amerikanischen Nachbarn, deren Seelen verdorben waren von der unersättlichen Gier nach Dollars.«
    Houston schüttelte den Kopf vor seinem britischen Publikum, schmerzlich berührt von diesem Charakterfehler seiner amerikanischen Landsleute. Er hatte ihre Sympathie, dachte Sybil. »Die Cherokee eroberten mein Herz«, fuhr Houston fort. »Ich lief von daheim fort, um unter ihnen zu leben, mit nichts, meine Damen und Herren, als der Wildlederjacke auf meinem Rücken und Homers Ilias in der Tasche.« Das Kinotrop-Bild veränderte sich von unten nach oben und erzeugte die Wiedergabe einer griechischen Vase, deren Bemalung einen Krieger mit Helmbusch und erhobenem Speer zeigte. Er trug einen runden Schild mit dem Emblem eines Raben, der die Flügel ausgebreitet hatte. Es gab ein leichtes Prasseln beeindruckten Beifalls, den Houston mit bescheidenem Kopfnicken quittierte.
    »Als ein Kind der amerikanischen Grenze«, fuhr er fort, »kann ich nicht behaupten, eine sehr gute und vielseitige Ausbildung genossen zu haben, obwohl ich später im Leben Rechtsanwalt wurde und eine ganze Nation führte. Doch schon als Junge suchte ich mein bescheidenes Schulwissen auf eigene Faust zu erweitern und mich aus Büchern fortzubilden. Jede Zeile aus dem berühmten Epos des blinden Dichters prägte ich meinem Gedächtnis ein.« Er legte die Hand auf seine ordenübersäte linke Brustseite. »Das Herz in dieser narbigen Brust«, sagte er und klopfte darauf, »schlägt noch immer für diese große Dichtung, dieses hohe Lied einer Tapferkeit, die selbst die Götter herausforderte, einer unbefleckten Kriegerehre, die mehr gilt als der Tod!« Er wartete auf den Applaus. Endlich kam er, wenngleich nicht so warm, wie er zu erwarten schien.
    »Ich sah keinen Widerspruch im Leben der homerischen Helden und dem meiner geliebten Cherokee«, erklärte Hous ton. Hinter ihm entsprossen dem Speer des griechischen Kriegers die baumelnden Federn eines indianischen Jagdspeeres, und Kriegsbemalung färbte sein Gesicht.
    Houston spähte auf seinen Stichwortzettel. »Gemeinsam jagten wir Bär und Hirsch und Wildschwein, fischten in den klaren Flüssen und bauten den gelben Mais an. Am Lagerfeuer, unter dem freien Himmel, erzählte ich meinen wilden Brüdern von den moralischen Lektionen, die mein jugendliches Herz den Worten Homers abgewonnen hatte. Deswegen gaben sie mir in der Sprache des roten Mannes den Namen des Raben, in welchem sie den klügsten der Vögel sehen.«
    Der Grieche löste sich auf und machte einem größeren Raben Platz, dessen Flügel steif über die Leinwand ausgebreitet waren und dessen Brust von einem gestreiften Schild bedeckt war. Sybil erkannte das Symbol. Es war der amerikanische Adler, Symbol der zerrissenen Union, aber der weißköpfige Yankee-Vogel war zu Houstons schwarzer Krähe geworden. Es war eine schlaue Umwandlung des alten Symbols, dachte sie, vielleicht schlauer, als das Publikum zu würdigen wusste, denn zwei von den Kinotrop-Teilen waren auf ihren Spindeln stecken geblieben, was sich im oberen linken Drittel der Leinwand durch verschwommene blaue Punkte bemerkbar machte; ein geringfügiger Fehler, aber über die Maßen störend, wie ein Staubkörnchen im Auge. Micks ausgetüftelte Locherei beanspruchte das Kinotrop des Garrick-Theaters ungewöhnlich stark.
    Solchermaßen abgelenkt, hatte Sybil den Faden von Houstons Ansprache verloren. »… der eherne Ruf der Kriegstrompete im Lager der Freiwilligen aus Tennessee.« Ein weiteres Kinotrop-Porträt erschien: ein Mann, der Houston ziemlich ähnlich sah, aber mit einem dichten Haarschopf und hohlen Wangen, durch die Bildunterschrift als General Andrew

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