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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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Schreckliches, aber nicht schlimmer als ihre anderen Sünden. Doch irgendwie war sie jetzt hier und tat, was er von ihr verlangte.
    Sie blieb vor der Tür stehen, blickte in beide Richtungen durch den verlassenen Korridor, befingerte den gestohlenen Schlüssel. Warum tat sie dies? Weil Mick stark war und sie schwach? Weil er Geheimnisse wusste, die ihr unbekannt waren? Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie sich in ihn verliebt haben könnte. Vielleicht liebte sie ihn wirklich, in einer seltsamen Weise, und wenn dies zuträfe, würde es manches in einer beinahe beruhigenden Weise erklären. Wenn sie liebte, hatte sie auch das Recht, die Brücken hinter sich abzubrechen, auf Luft zu gehen, sich von Impulsen leiten zu lassen. Und wenn sie Radley liebte, war es etwas, das sie wusste, aber nicht er. Ihr Geheimnis ganz allein.
    Nervös und schnell sperrte sie die Tür auf, schlüpfte durch, schloss sie hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sie stand im Dunkeln.
    Irgendwo im Zimmer gab es eine Lampe. Sie konnte den abgebrannten Docht riechen. In der Wand gegenüber zeichnete sich der Umriss eines hohen Fensters zur Straße ab. Die Vorhänge waren zugezogen, und zwischen ihnen drang Gaslicht durch einen feinen Spalt. Mit ausgestreckten Armen tappte sie in den Raum, bis sie die polierte Deckplatte eines Schreibtisches ertastete und den matten Glanz eines gläsernen Lampenschirms ausmachte. Sie hob die Lampe, schüttelte sie. Es war Öl darin. Jetzt brauchte sie ein Zündholz.
    Sie fühlte nach Schreibtischschubladen. Aus irgendeinem Grund waren sie bereits offen. Ihre Finger durchsuchten sie. Briefpapier. Nutzlos, und jemand hatte in einer der Schubladen Tinte vergossen; sie konnte es riechen.
    Dann streiften ihre Finger eine Schachtel Zündhölzer, die sie weniger durch Berührung als durch das trockene, vertraute Rasseln erkannte. Aber ihre Finger schienen ihr nicht richtig zu gehorchen. Das erste Zündholz zischte und erlosch, verbreitete unangenehmen Schwefelgeruch. Das zweite flammte auf und zeigte ihr die Lampe. Ihre Hände zitterten stark, als sie den Zylinder hob und die Flamme an den Docht hielt.
    Sie sah ihr eigenes, lampenbeschienenes Spiegelbild mit großen Augen aus einem großen Drehspiegel starren, dann verdoppelt in den Facettenspiegeln des Kleiderschranks. Sie sah, dass Kleidung am Boden verstreut war, auf dem Bett …
    Ein Mann saß auf einer Sessellehne, kauerte dort wie eine riesige dunkle Krähe, ein riesiges Messer in der Hand.
    Als sie ihn sah, stand er langsam mit einem Knarren von Leder auf, wie eine große hölzerne Marionette, die seit Jahren irgendwo auf einem Dachboden im Staub gelegen hatte. Er war in einen langen und formlosen grauen Mantel gehüllt. Ein dunkles Halstuch war vor Nase und Mund gebunden und verbarg seine untere Gesichtshälfte.
    »Schön still jetzt, Missy«, sagte er und hielt die massive Klinge in die Höhe – dunkler, hackmesserartiger Stahl. »Sam unterwegs?« Sybil fand ihre Stimme wieder. »B-bitte töten Sie mich nicht!«
    »Der alte Ziegenbock immer noch beim Herumhuren, was?« Die träge, gedehnte texanische Stimme ließ die Worte wie zähe Siruptropfen heraus und ineinander verfließen; Sybil konnte ihn kaum verstehen. »Bist du sein Liebchen?«
    »Nein!«, sagte Sybil mit gepresster Stimme. »Nein, das bin ich nicht, ich schwöre es! Ich … ich bin gekommen, um etwas von ihm zu stehlen, und das ist die Wahrheit!«
    Eine schier unerträgliche Stille folgte auf ihre Worte. Endlich räusperte er sich.
    »Sieh dich um.«
    Sybil tat es, zitternd. Das Zimmer war durchwühlt.
    »Nichts zu stehlen da«, sagte der Mann. »Wo ist er, Mädchen?«
    »Unten im Rauchzimmer«, sagte Sybil. »Er ist betrunken. Aber ich kenne ihn nicht, das schwöre ich! Mein Mann schickte mich hierher, das ist alles! Ich wollte es nicht tun, aber er zwang mich!«
    »Still jetzt!«, sagte er. »Einer weißen Frau würde ich nichts tun, es sei denn, ich müsste es. Mach die Lampe aus!«
    »Lassen Sie mich gehen«, bat sie. »Ich wollte niemandem schaden!«
    »Schaden?« Die träge Stimme war schwer von der Gewissheit des drohenden Galgens. »Was es an Schaden gibt, ist für Houston, und das ist schlichtweg Gerechtigkeit.«
    »Ich habe die Karten nicht gestohlen! Ich habe sie nicht angerührt!«
    »Karten?« Er lachte, ein trockenes, kehliges Geräusch.
    »Die Karten gehören Houston nicht. Er hat sie gestohlen!«
    »Houston hat viel gestohlen«, sagte der Mann, aber es war deutlich,

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