Die Dirne vom Niederrhein
Schreibtisch, der von zwei vollgestellten Bücherregalen flankiert wurde. Eine breite Fensterfront ließ das Abendrot herein und tauchte den Raum in dämmriges Licht. Ein paar Kerzen erhellten das freundliche Gesicht des Mannes. Seine vollen braunen Haare waren zu einem Scheitel gekämmt, er trug eine schwarze Weste über dem Hemd, das erst an seinem Hals abschloss.
»Ah, das ist der junge Mann, der mir angekündigt wurde«, sagte Vikar Weisen und erhob sich. »Wir sind wirklich glücklich, dass du bei uns bist, Maximilian.«
Sein Händedruck war kräftig; er war von imposanter Gestalt, wirkte jedoch nicht einschüchternd.
Wenn von jemandem Befehle entgegennehmen, dann von ihm, dachte Maximilian und lächelte zurück. Seine hasserfüllten Gedanken gegenüber Schwester Agathe waren wie vom Wind fortgetragen.
»Ich hoffe, Schwester Agathe hat dich herumgeführt«, sagte Weisen, steckte eine Hand in die Taschen und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung Fensterfront. »Wie du siehst, gibt es eine ganze Menge zu tun. Allerorts sind nur Männer zu finden, die nicht zu gebrauchen sind«, resümierte er und suchte dabei den Blickkontakt mit allen Anwesenden. Der andere Mann, an den Schreibtisch gelehnt, lächelte erschöpft.
»Was ist dein Handwerk, Junge?«, wollte der Vikar wissen.
»Ich bin Schmied«, antwortete Maximilian wahrheitsgemäß. Ein weiteres Mal zogen die Erinnerungen an seine zerstörte Heimat an ihm vorbei.
»Ein Schmied!«, rief der Vikar und klatschte freudestrahlend in die Hände. »Schwester Agathe, einen Besseren hättet Ihr uns nicht schicken können.« Anerkennend klopfte er Maximilian auf die Schulter. »Ich bin mir sicher, du wirst alle Aufgaben hier bravourös meistern. So ein starker und kluger Junge, wie du es bist.«
Der Vikar kam ganz nah an ihn heran und schaute ihm tief in die Augen. Maximilian verfestigte seinen Blick. Die Pupillen des Vikars hatten die Farbe von Bernstein und strahlten voller Leben und Kraft. Einen ähnlichen Ausdruck besaßen auch die Augen von Maximilians Vater. Er fasste sofort Vertrauen zu dem Geistlichen.
»Ja, so etwas erkenne ich sofort«, fügte der Vikar hinzu. »Bei dir habe ich ein sehr gutes Gefühl. Wir können dir zwar weder Bezahlung noch Ländereien bieten …«, sein theatralischer Ton machte deutlich, dass er das soeben Gesagte nicht ganz ernst meinte, »aber Kost und Logis sind in diesen Zeiten mehr wert als manche Münze. Also, was sagst du?«
Der Mann konnte sich gut verkaufen, auch hörte Maximilian den Klang seiner Stimme gerne. Hätte der Vikar den Weg des Kaufmanns gewählt, anstatt ein Mann Gottes zu werden, wären ihm Reichtümer und Ruhm gewiss gewesen. Und zudem hatte er recht: Nahrung und Wohnraum waren rar, Maximilian hatte dies am eigenen Leib spüren müssen. Der Preis für einen Laib Brot war enorm, von einer normalen Familie kaum mehr zu bezahlen. Außerdem, wenn Gott ihn verhöhnen wollte, welche Möglichkeiten blieben ihm dann noch? Vielleicht konnte er auf diese Weise ein wenig seiner Schuld abtragen, wenn auch nur einen Bruchteil.
»Ich nehme das Angebot an«, sagte er schließlich.
Euphorisch ergriff der Vikar seine Hand und schüttelte sie kräftig.
»Das ist ein Wort, so habe ich das gerne. Eine schnelle und gute Entscheidung ist die Tugend eines mutigen Mannes.« Zufrieden ließ er sich auf dem knarrenden Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder. »Ich bin wirklich froh, dass wir einen Schmied in unseren Reihen haben und keinen Soldaten.«
Bei diesen Worten lief ein Schauer über Maximilians Rücken. Sollte er ihn darauf hinweisen? Der Vikar war ihm mit Freundlichkeit und Güte begegnet, warum sollte Maximilian nicht ehrlich zu ihm sein? Andererseits warnte eine innere Stimme, er solle nicht alles von sich verraten.
»Diese Taugenichtse beherrschen allein das Handwerk des Tötens. Es behagt mir ganz und gar nicht – das Blut, das Geschrei, ich bin eher für die schönen, die feingeistigen Dinge im Leben.« Mit den Fingern deutete der Vikar auf die unzähligen Bücher, die sich in Regalen und auf dem Boden türmten. »Das Leben ist mein Geschäft, der Tod hingegen ist der Bereich von Doktor Rolf Sylar. Er betreut die Krankenstube in unserem Kloster.«
»Wohl eher das Verhindern des Todes, mein Freund«, erwiderte der Arzt und reinigte seine Bügelbrille, woraufhin beide sich anlächelten.
Doktor Sylar war ein kleiner, dicklicher Mann. Auf seinem Halbkranz spiegelten sich die Strahlen der untergehenden Sonne.
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