Die Dirne vom Niederrhein
Vikar tot sehen wollte. Amelie. Sie ist am Leben. Es stimmt, dass ich sie jagte, dass ich sie beim Bauernhof ihrer Eltern antraf. Doch sie trug den Namen meiner Schwester und ihre Stimme klang ehrlich. Sie erzählte mir Dinge über den Vikar … Ich wusste nicht, ob ich sie glauben sollte.«
»Du hattest Zweifel«, stellte Schwester Agathe fest.
Maximilian wandte sich ab. »Es ist etwas anderes, Soldaten auf dem Feld zu töten, als ein wehrloses Mädchen zu ermorden.« Er rieb sich mit den Händen durch das Gesicht, blickte kurz zur Tür. »Schließlich ließ ich sie gehen. Dem Vikar zeigte ich die entstellte Leiche einer anderen Frau. Er hat mir die Finte abgenommen. Wo Amelie jetzt ist, kann ich nicht sagen.«
Die Nonne sah ihn durchdringend an, genau, wie sie es bei ihrem ersten Treffen getan hatte. »Anderseits, mein Leben ist sowieso verwirkt. Ob ich heute oder morgen sterbe, wird dem Herrgott gleichgültig sein, wenn ich an seiner Pforte klopfe. Ich habe die Hoffnung aufgeben.« Sie schien ihm mitten in die Seele zu blicken, ihre Augen fixierten ihn förmlich. »Du bist eine arme, gequälte Seele, mein Junge. Allerdings scheint der Herr dich noch nicht aufgegeben zu haben. Das Schicksal der meisten Menschen, welche die Krankenstube betreten, ist bereits besiegelt. Doktor Sylar hat freie Hand, er darf mit den Patienten umgehen, wie es ihm beliebt. Gerade die Gesunden sind interessant, um seinen Wissensdurst ein wenig zu stillen. Er ist beseelt von dem Gedanken, die Menschen eines Tages von ihren Schmerzen zu befreien. Des Weiteren nimmt die Pflege eines Kranken zu viel Zeit und Geld in Anspruch, als dass sie sich für den Vikar lohnen würde. Einige gesunde Leiber braucht der Arzt also für seine Forschung, die armen Seelen, deren Körper schwach und krank sind, lässt er sterben.«
Maximilian schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Es tut mir leid, Schwester, aber ich verstehe nicht, was hat das zu bedeuten?«
Sie lachte auf. »Bist du wirklich so schwer von Begriff? Die Namen der Toten lässt der Vikar noch etliche Wochen lang in den Büchern stehen. Auf diese Weise erhält er Geld von der Kurie, für die Verpflegung der Kranken. Die Kasse des Klosters erreicht dieses Geld aber nicht. Nur für die wahre Pflegedauer der Patienten in der Krankenstube zahlt Vikar Weisen ein, der beachtliche Rest wandert in seine eigene Tasche.«
Vielleicht waren es der Schlafmangel oder die sich überschlagenden Ereignisse, aber auf einmal schwirrte Maximilians Kopf. »Was will er mit dem ganzen Geld?«
»Das, mein Junge, kann ich dir nicht sagen. Obwohl ich mit aller mir gegebenen Kraft versucht habe, dieses Geheimnis zu lüften, blieb es mir verborgen.«
»Und Ihr irrt nicht?«
»Was die Kasse angeht, habe ich noch nie geirrt.«
Bei dem festen Klang ihrer Stimme war es schwer, ihr nicht zu glauben.
»Habt Ihr Euch an die Kurie gewandt?«, wollte Maximilian wissen.
Ein trauriges Lächeln war auf den Lippen der Frau zu erkennen. »Natürlich nicht. Ich kann es nicht beweisen, und mein Wort allein zählt nicht viel. Vikar Weisen hat viele Freunde in Köln, vielleicht sogar in Rom, und stetig kommen neue hinzu. Es wäre ein willkommener Grund, mich wegen Torheit in die Krankenstube abzuschieben. Was meinst du, wie er den Posten als Vikar bekommen hat? Denkst du, es ist Usus, dass ein Mann Vorsteher eines Ordens von Franziskanerinnen wird, wo eigentlich eine Äbtissin die Geschicke leiten sollte? Nein, diese Ehre hat er sich erkauft, mit süßen Versprechungen und noch mehr Talern. Sieh dir seine Unterlagen an, seine privaten Notizbücher. Er behütet sie wie einen Schatz. Wenn du die Wahrheit wirklich suchst, wirst du dort fündig werden.«
Ein weiteres Mal schlug die Glocke. Bald würden die Nonnen aufbrechen …
Sein Verstand arbeitete jetzt rasend schnell. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Er fasste einen riskanten Plan, den er aber nicht allein durchführen konnte. Scheitern war wahrscheinlicher als Gelingen. Trotzdem musste er es versuchen. Wenn das Kloster wirklich in diese Machenschaften verwickelt war, musste etwas geschehen. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, hörte das Blut in seinen Adern rauschen. Ein längst verloren geglaubtes Gefühl, welches ihn früher jede Sekunde begleitet hatte, doch seit Lorenz’ Tod verschollen gewesen war. Erst die Worte Elisabeths hatten es wiedererweckt. Sein Sinn für Gerechtigkeit loderte wie ein Feuer auf.
»Ich brauche Geld,
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