Die Dornen der Rose (German Edition)
um Spatzen aus Paris zu führen – niemand unterwegs war.
Ihr Vater las jede Inschrift, an der sie vorbeikamen, laut vor, denn er war ein Mensch, der gern das Offensichtliche feststellte, wenn er nicht gerade etwas Verrücktes von sich gab. »45 G 1777.«
Das Hähnchen warf einen Blick auf die Zeichen und schaute dann nach oben zum steinernen Gewölbe. Dort befanden sich mit Kreide geschriebene Zeichen. Griechische Buchstaben und ein Pfeil. Nichts, was einen irgendwie weitergebracht hätte. »So hoch im Norden gibt es nicht so viele Schächte«, erklärte er. »Man hat nicht überall gegraben. Wenn unter der Rue Tessier kein Schacht verläuft, können wir nichts machen. Das wissen Sie doch, oder?«
»Ja.«
Sie waren fast am Ziel. Die Rue Saint-Jacques war nahe am Kloster. Hier waren überall Steine abgebaut worden. Sie kamen an Bögen vorbei, hinter denen tiefe Höhlen lagen, die die Stimme ihres Vaters fast verschluckten. Der Schotter unter ihren Füßen wurde weniger.
Bei 37 Rue Jacques blieben sie stehen. Ihr Vater hielt den Kompass in der einen und die Karte in der anderen Hand. Dabei vollführte er einen seltsamen Tanz, während er versuchte, Karte und Kompass aufeinander abzustimmen. Es handelte sich um seine eigenen, von ihm gezeichneten Karten von Paris. Es waren außergewöhnlich genaue Karten, doch es waren nur die 156 höchsten Gebäude von Paris eingezeichnet.
Adrian und Jean-Paul, die schwer beladen waren, lehnten mit den Rucksäcken an der Wand und ruhten sich aus. Spitzhacken und Schaufeln klapperten gegen den Fels. Ihr Vater klopfte auf den Kompass und sah nachdenklich die Wand an.
Lass das nicht die Richtung sein, in der das Kloster liegt. Nicht da. Nicht da, wo nur unberührter Fels ist. Bitte. Es gibt so viele Schächte. Es muss doch einen unter der Rue Tessier geben .
»Wir müssen darum herumgehen.« Entschlossen machte ihr Vater kehrt und führte sie denselben Weg zurück, während er die ganze Zeit von Magnetismus redete. Er verlief offensichtlich in bestimmten Linien.
Es spielt keine Rolle, dass er verrückt ist. Es spielt auch keine Rolle, ob ich eine logische, eine kluge oder eine vernünftige Entscheidung gefällt habe. Guillaumes Leben hängt nur noch davon ab, ob ich Glück habe oder nicht .
Das Hähnchen streckte eine Hand aus und strich mit den Fingern über die Decke des Ganges, durch den sie gerade gingen. »Ihnen ist doch klar, dass wir uns da nicht durchgraben können. Es würde Monate dauern, sich da mit einem Meißel einen Weg zu bahnen, und man würde uns ohnehin dabei erwischen. So kommen wir nicht in das Gefängnis. Wenn wir den Brunnen nicht finden …«
»Ich hoffe wirklich inständig, dass wir den Brunnen finden.«
Ihr Vater blieb stehen. Er schloss den Kompass und steckte ihn ein. Das Klicken beim Schließen des Kupfergehäuses des Kompasses hatte etwas Endgültiges.
»Hier?«, fragte sie.
»Das kann man nicht wissen. Es ist ein Fehler zu denken, man könnte alles wissen. Heraklit hat darüber geschrieben. Die Energieströme innerhalb der Erde …«
»Vater, ist es hier? Genau hier?«
»Ich sage dir doch – das kann man nicht wissen.«
Es gab nichts Eindeutigeres als die Richtung, in die ein Kompass wies. Lange, nachdem sie tot und zu Staub geworden war, würde ein Kompass immer noch nach Norden zeigen. »Wenn man es nicht wissen kann, kann man doch wenigstens eine Vermutung anstellen, oder?«
»Wenn du eine Vermutung willst …« Er zuckte die Achseln. »Geh fünfzig Schritte. Da entlang.« Er zeigte die Richtung. »Das Haupttor des Klosters befindet sich im Umkreis von hundert Metern des Felsens, auf dem du stehst, fünfzig Schritte in die Richtung.« Er schob die Lippen vor. »Wahrscheinlich.«
Sie trug ihre Kerze ins Dunkel und zählte dabei. Ich muss es glauben.
Jean-Paul folgte ihr. Der Lichtschein seiner Kerze überschnitt sich mit dem ihrer. Als sie stehen blieb, legte er seinen Rucksack ab und beschäftigte sich mit dem Herausholen und Anzünden weiterer Kerzen. Sie hatten einen großen Vorrat mitgebracht. In einen Stollen konnte man gar nicht genug Kerzen mitnehmen, genauso wie man nicht zu viel Wasser in die Wüste mitnehmen konnte.
Das Kloster lag über ihnen. Guillaume befand sich zwanzig Meter über ihr.
»Wir sind hier direkt unter dem Kloster von Saint-Barthélémy.« Sie brauchte ihre Stimme nicht zu erheben, um gehört zu werden. Alle waren dicht aufgerückt. Im Licht der kleinen Flammen waren die Gesichter, die Hände, die
Weitere Kostenlose Bücher