Die Dornen der Rose (German Edition)
Brustkörbe zu sehen. »Im Kloster gibt es einen Brunnen, der mehrere Hundert Jahre alt ist. Der Brunnenschacht geht durch diesen Stollen ins Grundwasser darunter. Der Brunnen befindet sich nicht weit von der Stelle, wo wir jetzt stehen. « Wenn ich es nur mit genügend Überzeugung sage, wird es wahr. »Die Gänge«, sie beschrieb einen weiten Bogen mit der Hand, die nicht die Kerze hielt, »kamen erst später. Lange, nachdem es den Brunnen schon gab.«
So viel Stille. Ihre kleine Welt bestand nur aus sechs Personen, sehr viel Dunkelheit und der schrecklichen Endgültigkeit undurchdringlichen Felsgesteins. Es war unvorstellbar, wie weit sich die Dunkelheit in alle Richtungen erstreckte. Ganze Ozeane voller Dunkelheit.
»Das ist die Geschichte dieses Ortes«, erklärte sie. »Wenn die Steinbrucharbeiter auf einen Brunnen stoßen, ziehen sie sich davon zurück. Der Stein um den Brunnen herum bleibt unangetastet. Dann entsteht einer dieser Pfeiler, die wir hier überall sehen, oder sie errichten eine zusätzliche Wand aus Quadern und Mörtel um den Brunnenschacht. Unser Brunnen, der Brunnen des Klosters, befindet sich innerhalb einer dieser dicken Wände oder in einem Pfeiler.«
Keiner sagte etwas. Es gab auch nichts zu sagen. Sie schloss mit den schlichten Worten: »Wir werden ihn finden.«
Adrian setzte seinen Rucksack vor ihren Füßen ab. Genau wie Jean-Paul, wie Justine und das Hähnchen begann er, Kerzen anzuzünden und mit ihrem eigenen Wachs auf dem Boden zu befestigen. Fünf Kerzen. Ein Dutzend. Zwei Dutzend. Ein Lichtkreis entstand um die Gerätschaften, die sie mitgebracht hatten. Kleine Lichtpunkte, eigensinnig wie die Sterne am Himmel. Sie durchdrangen das Dunkel und bildeten mit ihren Markierungen ein Lager.
Adrian kam zu ihr, als er fertig war. »Dann soll ich jetzt also nach einem zugemauerten Loch in diesen großen Pfeilern oder einem Stück Wand, das einfach im Raum steht, suchen. Richtig?«
»Genau.« Sie würden unter Umständen eine Woche mit der Suche beschäftigt sein. Guillaume hatte nur einen Tag. Vielleicht auch zwei. Wussten eigentlich alle, wie verschwindend gering die Wahrscheinlichkeit war, dass sie fündig wurden?
»Was für Idioten sind das eigentlich, die eine Stadt auf Eierschalen errichten? Es braucht ja nur einer zu niesen, und das Ganze würde zusammenbrechen.« Kopfschüttelnd ging Adrian davon. »Paris.«
Das Hähnchen nahm einen Schluck Wein aus seiner Flasche, verkorkte sie und steckte sie wieder in den Lederrucksack, den er dabeihatte. »Geht nirgends hin, wo ihr das Licht der anderen nicht mehr sehen könnt. Wenn ihr euch verirrt, setzt euch hin und wartet. Vielleicht mache ich mich sogar auf die Suche nach euch. Bon courage .«
Die erste Stunde verbrachten sie damit, minutenlang jeden Pfeiler und jede Wand in diesem Stollen nach irgendwelchen Hinweisen zu untersuchen. Dann setzten sie ihre Suche im nächsten Stollen fort.
Nach fünf Stunden legten sie eine Pause ein, um in einer kleinen Nische, die in den Fels gehauen worden war, etwas zu essen. Sie saßen auf einer rund angelegten Treppe, die nach unten zu einer Quelle im Felsen führte. Zweieinhalb Meter unter ihnen lag ein rundes Becken, das Trinkwasser enthielt und in dem die alten Steinbrucharbeiter vielleicht die Füße gebadet hatten. Das Wasser war so klar, dass man es fast nicht sah; doch es warf das Licht ihrer Kerzen zurück. Sie verspeisten die hervorragenden Pasteten und den Käse, die im Bordell serviert wurden. Dazu tranken sie Wein und sprachen nur wenig miteinander.
Ihr Vater wurde langsam müde. Sie hatte dafür gesorgt, dass er eine warme Jacke dabeihatte, doch er war trotzdem durchgefroren. Draußen würde es jetzt später Nachmittag sein.
Nach zehn Stunden unter der Erde hatten sie bei ihrer Suche immer größere Kreise gezogen und waren mittlerweile in einem weiteren Stollen angelangt. Fledermäuse flatterten auf und flüchteten durch irgendeinen Luftschlitz in der gewölbten Decke. Ein zarter Lichtstrahl kam von hoch oben und fiel frisch und schön wie eine Quelle in der Wüste bis auf den Höhlenboden.
Es handelte sich um einen Lüftungsschacht, der in den Fels gebohrt worden war. Wie magisch angezogen ging sie darauf zu, stellte sich in den Lichtstrahl und schaute nach oben. Sie meinte, bereits seit hundert Jahren hier im Dunkel zu sein.
»Ich folge ihm bis nach oben«, erklärte das Hähnchen. »Dann wissen wir genau, wo wir sind. Aber das dauert einen oder zwei Tage. Wahrscheinlich
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