Die Dornenvögel
lieben sie?« fragte Anne überrascht. »Seit jeher.«
»Das ist eine Tragödie für Sie beide.«
»Ich hatte gehofft, nur für mich. Erzählen Sie mir über sie. Was ist seit ihrer Hochzeit mit ihr geschehen? Es ist eine ganze Reihe von Jahren her, daß ich sie nicht mehr gesehen habe, und beim Gedanken an sie hatte ich oft ein ungutes Gefühl.«
»Ich will Ihnen gern sagen, was ich weiß. Aber zuerst müssen Sie mir von Meggie erzählen. Oh, ich meine nichts wirklich Privates. Nur, was für ein Leben sie geführt hat, bevor sie nach Dunny kam. Wir wissen absolut nichts über sie, Luddie und ich, außer daß sie irgendwo in der Nähe von Gillanbone gelebt hat. Wir würden gern mehr wissen, weil wir sie sehr mögen. Aber sie wollte uns nie etwas erzählen - Stolz, glaube ich.«
Luddie brachte ein Tablett mit Tee und einem kleinen Imbiß. Er setzte sich, und wenig später umriß der Priester mit wenigen Worten, wie Meggies Leben vor ihrer Heirat mit Luke ausgesehen hatte. »Darauf wäre ich in tausend Jahren nicht gekommen!« rief Anne. »Sich vorzustellen, daß Luke O’Neill die ungeheure Frechheit hatte, sie aus all dem herauszureißen und dann als Dienstmädchen arbeiten zu lassen! Und zu allem mußte ihr Lohn immer direkt auf sein Konto überwiesen werden! Wissen Sie, daß das arme Ding hier nie auch nur einen Penny für sich in ihrem Portemonnaie gehabt hat? Ich habe ihr vergangene Weihnachten zwar Weihnachtsgeld gegeben, aber sie brauchte dringend so viele Sachen, daß es an einem Tag aufgebraucht war, und mehr wollte sie von uns nie annehmen und hat sie nie angenommen.«
»Sie brauchen Meggie nicht zu bemitleiden«, sagte der Erzbischof, und seine Stimme klang plötzlich ein wenig schroff. »Ich glaube auch nicht, daß sie sich selbst bemitleidet, schon gar nicht, weil es ihr an Geld fehlt. Schließlich hat es ihr wenig Freude gebracht, nicht wahr? Sie weiß, wohin sie sich wenden kann, wenn sie welches braucht. Ich würde meinen, daß Lukes offenkundige Gleichgültigkeit sie weit tiefer geschmerzt hat als der Mangel an Geld!«
Jetzt erzählten Anne und Luddie, was sie über Meggies Leben hier wußten. Währenddessen saß Erzbischof de Bricassart völlig reglos, die Hände wieder zum gotischen Spitzbogen gewölbt, den Blick auf einer Palme draußen vor der Veranda. Nicht ein einziges Mal bewegte sich in seinem
Gesicht auch nur ein Muskel, und auch in seinen schönen blauen Augen zeigte sich kein Ausdruck außer jenem der Entrücktheit. Er hatte viel gelernt, seit er in die Dienste von Kardinal di Contini-Verchese getreten war.
Schließlich seufzte er, holte seinen Blick gleichsam aus der Ferne zurück und richtete seine Augen auf das Ehepaar. »Nun, es scheint, daß wir ihr helfen müssen, da Luke ja offenbar nicht dazu bereit ist. Wenn er sie wirklich nicht haben will, so ist sie auf Drogheda besser aufgehoben. Ich weiß, daß Sie sie nicht verlieren möchten, aber bitte - um ihretwillen sollten Sie sie dazu überreden, nach Hause zurückzukehren. Ich werde Ihnen von Sydney einen Scheck für sie schicken, so daß es ihr erspart bleibt, ihren Bruder um Geld bitten zu müssen. Wenn sie dann zu Hause ist, kann sie dort ja erzählen, was sie für richtig hält.« Er blickte zur Schlafzimmertür, bewegte sich unruhig. »Lieber Gott, laß das Kind zur Welt kommen.« Aber das Kind kam erst nahezu vierundzwanzig Stunden später zur Welt, und da war Meggie vor Erschöpfung und Schmerzen fast tot. Doc Smith hatte ihr reichliche Dosen Laudanum verabfolgt, was er, seiner altmodischen Denkweise entsprechend, noch immer für das beste Beruhigungsmittel hielt. Sie schien haltlos dahinzutreiben durch wirbelnde, strudelnde, torkelnde Alpträume, in denen viele verschreckende, tief verstörende Gesichte vor ihr aufstiegen, Krallen, Klauen, Pranken sich nach ihr streckten und reißen wollten und zerfetzen. Manchmal konnte sie für einen kurzen Augenblick auch Ralph erkennen, sehr nah und deutlich, doch dann verschwamm sein Gesicht wieder, wie fortgespült von einer Woge aus Schmerz. Doch die Erinnerung an ihn blieb, und manchmal wurde ihr auch bewußt, daß er da war und an ihrem Bett Wache hielt. Und dann hatte sie den festen Glauben, daß weder sie noch das Baby sterben würden.
Ab und zu blieb nur die Hebamme im Schlafzimmer. Dann schöpfte der Arzt zwischendurch einmal Atem - nachdem er sich durch einen Anruf in seiner Praxis davon überzeugt hatte, daß ihn im Augenblick zum Glück kein Patient dringend brauchte.
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