Die Dornenvögel
Witwe eines Mannes, der in zwei kleinen Fabriken Rundfunkgeräte hergestellt hatte. Nun betrieb Rainer Hartheim das Geschäft. Daß er erst Anfang zwanzig war, spielte keine Rolle. Zum einen war er weit über sein Alter hinaus gereift, zum anderen boten sich im Nachkriegsdeutschland mit seinen nicht selten chaotischen Zuständen jungen Männern ausgezeichnete Chancen. 1951 ließ er sich von seiner Frau wieder scheiden. Da es seinerzeit eine Ziviltrauung gewesen war, stand der Scheidung von kirchlicher Seite aus nichts entgegen. Seiner Frau Annelise zahlte er als Abfindung eine Summe, die - nach dem augenblicklichen Stand - genau dem doppelten Wert der Fabriken ihres ersten Gatten entsprach. Er blieb Junggeselle, heiratete nicht wieder.
Die furchtbaren Erlebnisse in Rußland hatten ihn zwar nicht zum seelenlosen Zerrbild seiner selbst werden lassen, doch sie hemmten, ja lahmten jenes innere Wachstum, das zumindest eine gewisse Sanftheit und Zärtlichkeit mitbedingt. Um so stärker prägten sich statt dessen bei ihm aus Intelligenz, Entschlußkraft, Rücksichtslosigkeit. Ein Mann, der nichts zu verlieren hat, hat alles zu gewinnen. Und ein Mann, der keine Gefühle besitzt, kann in seinen Gefühlen auch nicht verletzt werden. So jedenfalls versuchte er, es sich selber einzureden. In Wirklichkeit glich er auf sonderbare Weise jenem Mann, dem er 1943 in Rom begegnet war. Genau wie Ralph de
Bricassart wußte er es, wenn er unrecht tat, was ihn jedoch keineswegs davon abhielt, ein Unrecht zu tun. Doch für alles, was er in materieller Hinsicht erreichte, mußte er auf andere Weise bezahlen, mit Selbstvorwürfen, innerer Zerrissenheit. Vielen an seiner Stelle wäre der Preis zweifellos zu hoch erschienen. Er sah das anders. Für ihn war das Erreichte fast jedes Opfer wert, nur Mittel zum Zweck, um eines Tages an entscheidender Stelle die grundlegende innere Umwandlung Deutschlands bewirken zu können, die ihm seit jeher vorgeschwebt hatte; jene ethische Tradition, die er für sich die lutheranisch-arische nannte, wollte er beseitigt sehen und durch eine breitere, weltoffenere ersetzen. Er war ein Mensch voller Widersprüche und gleichzeitig von fast schon absurder Konsequenz. Da es ihm unmöglich war, ehrlichen Herzens zu geloben, er werde nicht wieder sündigen, hatte er sich im Beichtstuhl mehrmals geweigert, die Absolution anzunehmen. Sein Verhältnis zur Religion in diesen Jahren ließ sich vielleicht am besten mit jenem Ausdruck charakterisieren, mit dem man damals, typischerweise, so vieles im Leben kennzeichnete: Irgendwie wurstelte er sich durch. Als er es 1955 in geradezu spektakulärer Weise zu Macht und Reichtum gebracht hatte - und zu dieser Zeit auch als Abgeordneter im Bundestag saß -, reiste er nach Rom, um Kardinal de Bricassart aufzusuchen. Was immer er sich von der Wiederbegegnung versprochen haben mochte, während des Gesprächs mit dem Kardinal war er sich dann nur noch einer Tatsache bewußt: daß Ralph de Bricassart von ihm enttäuscht war, tief enttäuscht.
Er begriff auch, weshalb. Auf die Schlußbemerkung des Kardinals war er dennoch nicht gefaßt.
»Sie waren noch so jung damals, und ich betete darum, daß es Ihnen gegeben sein möge, besser zu handeln als ich. Die Mittel werden niemals durch den Zweck geheiligt. Aber ich glaube fast, der Same unserer Vernichtung wird schon vor unserer Geburt gesät.« Wieder in seinem Hotelzimmer, war Rainer Hartheim plötzlich in Tränen ausgebrochen. Als er nach einer Weile wieder ruhiger wurde, dachte er: An der Vergangenheit läßt sich nichts mehr ändern, aber in Zukunft werde ich versuchen, seinen Erwartungen zu entsprechen. Manchmal gelang es ihm, manchmal nicht. Aber er versuchte es immer wieder. Die Freundschaft mit den Männern im Vatikan wurde zum Kostbarsten, das es für ihn im Leben gab, während Rom sich mehr und mehr zu einem Zufluchtsort entwickelte, zu einem Refugium, wo er wirklich Trost fand. Recht sonderbar waren sie auf ihre Art, diese hochgestellten Männer der Kirche. Im Handauflegen oder gütigen Worten übten sie sich, bei ihm jedenfalls, durchaus nicht. Was den Trost bewirkte, war etwas, das sich kaum näher beschreiben ließ: ein Balsam, der unmittelbar aus der Seele kam, so als wüßten sie um seinen Schmerz.
Er hatte Justine zu ihrer Pension gebracht, und als er jetzt allein durch die nächtlichen Straßen Roms ging, wußte er, daß er nie aufhören würde, ihr dankbar zu sein. Denn etwas Eigentümliches war geschehen. Als er
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