Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
Vom Netzwerk:
Ich bin noch zu jung.«
    »Tatsächlich?« Sie sah ihn an und betrachtete ihn genauer. Seine brünette Haut war ohne Furchen, und unter den tiefliegenden Augen sah man noch nicht einmal die Andeutung von Tränensäcken. »Ich bin grauhaarig und schwergewichtig. Aber grau bin ich schon mit sechzehn geworden, und schwergewichtig bin ich, seit ich genug zu essen hatte. Was mein Alter betrifft, ich bin bescheidene einunddreißig.«
    »Dann will ich Ihnen mal aufs Wort glauben«, sagte sie, während sie sich die unbequemen Schuhe von den Füßen streifte. »Aber in meinen Augen ist das immer noch ziemlich alt. Ich bin nämlich erst süße einundzwanzig.«
    »Sie sind ein Ungeheuer«, sagte er mit einem Lächeln. »Na, das muß wohl stimmen. Meine Mutter behauptet nämlich genau dasselbe. Allerdings bin ich mir überhaupt nicht sicher, was ihr beide damit meint. Könnten Sie mir also Ihre Version geben?« »Wie steht’s mit der Version Ihrer Mutter?«
    »Na, wenn ich die danach fragte, würde ich sie teuflisch in Verlegenheit bringen.«
    »Glauben Sie nicht, daß Sie auch mich teuflisch in Verlegenheit bringen?«
    »Ich habe den starken Verdacht, Herr Hartheim, daß auch Sie ein Ungeheuer sind. Und daher bezweifle ich, daß irgend etwas Sie in Verlegenheit bringen kann.«
    »Ein Ungeheuer«, wiederholte er leise. »Also gut, Miß O’Neill, ich werde Ihnen zuliebe eine Definition versuchen. Ein Ungeheuer ist jemand, der andere in Angst und Schrecken versetzt, der sie einfach überrollt, der sich so stark fühlt, daß er meint, höchstens Gott könnte ihn bezwingen, einer, der keine Skrupel und kaum moralische Grundsätze kennt.«
    Sie lachte. »Klingt für mich ganz, als ob Sie von sich sprechen. Ich muß ja Skrupel und moralische Grundsätze haben. Schließlich bin ich Danes Schwester.« »Sie sehen ihm überhaupt nicht ähnlich.« »Um so bedauerlicher.«
    »Sein Gesicht würde zu Ihrer Persönlichkeit kaum passen.« »Da haben Sie sicher recht. Doch mit seinem Gesicht hätte ich vielleicht auch eine andere Persönlichkeit entwickelt.« »Was in etwa auf die Frage hinausläuft: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei - nicht wahr? Ziehen Sie Ihre Schuhe wieder an. Wir werden ein Stück zu Fuß gehen.«
    Es war warm und wurde immer dunkler. Doch hell leuchteten Lampen und Laternen, unendlich viele Lichter, und überall waren Menschen. Auf den Straßen staute sich der Verkehr - Mopeds, Fiats, Goggomobile. Sie gelangten zu einem kleinen Platz, dessen Pflaster über die Jahrhunderte hinweg durch unendlich viele Füße abgeschliffen worden war.
    Rainer Hartheim führte Justine in ein Restaurant. »Oder wollen Sie lieber draußen sitzen?« fragte er.
    »Sofern ich etwas zu essen bekomme, ist’s mir egal, ob ich drinnen oder draußen oder mitten dazwischen sitze.« »Darf ich für Sie bestellen?«
    Die fahlen Augen schienen müde zu zwinkern, doch gar so leicht ließ Justine sich nicht unterkriegen. »Ich könnte wirklich nicht behaupten, daß mir diese Dein-Herr-und-Meister-Manier gefällt«, sagte sie. »Woher wollen Sie schließlich wissen, was mir schmeckt?« »Die Amazonen-Zone, verstehe«, murmelte er. »Also, sagen Sie mir, welche Geschmacksrichtung Ihnen behagt, und ich garantiere Ihnen, daß Sie zufrieden sein werden. Fisch? Kalb?«
    »Ein Kompromiß? Einverstanden, ich komme Ihnen auf halbem Wege entgegen, warum auch nicht? Ich nehme Pastete, einige Scampi und einen Riesenteller mit Saltimbocca. Anschließend dann eine Cassata und ein Cappuccino. Und wie Sie das im einzelnen arrangieren, ist ganz und gar Ihre Sache.«
    »Ich sollte Sie übers Knie legen«, sagte er gutgelaunt und gab ihre Wünsche, in fließendem Italienisch, genauso an den Kellner weiter, wie Justine sie geäußert hatte.
    »Sie haben gesagt, daß ich Dane überhaupt nicht ähnlich sehe. Bin ich denn in gar keiner Beziehung wie er?« fragte sie später, als sie beim Kaffee waren. Während des Essens hatten sie nur wenige Worte miteinander gewechselt, Justine war zu hungrig gewesen. Rainer gab ihr Feuer für ihre Zigarette, zündete sich dann seine eigene an. Wortlos lehnte er sich zurück und ließ sich noch einmal verschiedenes durch den Kopf gehen. Inzwischen war es eine Reihe von Monaten her, daß er Dane O’Neill kennengelernt hatte: Ralph de Bricassart, nur vierzig Jahre jünger. Er hatte sodann erfahren, daß sie Onkel und Neffe waren und daß die Mutter des Jungen und des Mädchens des Kardinals Schwester war.
    »Eine gewisse Ähnlichkeit

Weitere Kostenlose Bücher