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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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beobachtete, mit wieviel Tapferkeit und Willensstärke sie sich am Nachmittag in Gegenwart der Kardinale behauptete und wirklich ihre Frau stand, überkam ihn ein überraschendes Gefühl der Zärtlichkeit. Blutig, aber ungebeugt, das kleine Ungeheuer. Was er für sie empfand, so meinte er, hätte er für eine Tochter empfinden können, auf die er stolz war. Nur, daß er keine Tochter hatte.
    So war er dann zu dem Entschluß gekommen, sie den Kardinalen und vor allem ihrem eigenen Bruder zu entführen. Er wollte ihre Nach-Reaktion sehen: auf die Konfrontation mit einem gleichsam überwältigenden Klerikertum und, nicht zuletzt, mit einem Dane, wie sie ihn früher so doch zweifellos nicht gekannt hatte, mit einem Bruder, der nicht mehr ganz zu ihrer Welt gehörte und nie wieder ganz zu ihr gehören würde.
    Er grübelte weiter. Das Schöne an seinem persönlichen Gott
    - und wie so viele Menschen besaß er ihn, diesen ganz persönlichen Gott -war, daß er alles verzeihen konnte. Er konnte Justine ihre Gottlosigkeit verzeihen und ihm, Rainer Hartheim, die fast völlige Abkapselung seines Gefühlslebens, eine Isolation, die manchmal schon so vollständig zu sein schien, daß er tief erschrak und meinte, der Schlüssel für die Zugangstür sei für immer verloren. Und bisweilen nahm ein solcher Schlüssel auf recht überraschende Weise Gestalt an - zum Beispiel als Rotschopf in einem roten Raum voll roter Kardinale.
    Ein flüchtiger Tag, vorüber in einer Sekunde. Doch als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, sah er, daß es längst noch nicht so spät war, wie er geglaubt hatte - und plötzlich dachte er an jenen Mann, der im Castel Gandolfo im Sterben lag, das schmale, bleiche, asketische Gesicht vielleicht zuckend vor Schmerz. Was immer man auch sagen mochte, er war ein großer Papst gewesen, war es noch. Und wenn er seine Deutschen liebte, wenn er es noch immer mochte, daß man in seiner Gegenwart deutsch sprach, änderte das vielleicht irgend etwas daran?
    Und Rainer dachte an einen anderen Mann, an einen Mann, der die Gewohnheiten seiner Katze teilte und nachts oft lange wach lag, ein mächtiger Mann im Machtgefüge der Kirche ... vielleicht bald der mächtigste? Rainer Hartheim hatte ihn sehr sorgsam beobachtet während der letzten drei Jahre, und er wußte, daß jene klugen, dunklen, liebenden Augen besonders gern auf etwas ruhten, das ... womöglich nur ein Gedanke blieb?
    Vittorio Scarbanza Kardinal di Contini-Verchese, vielleicht würde er der nächste Papst sein, vielleicht auch nicht.
    »Also du könntest mich totschlagen, aber das hätte ich wirklich nie geglaubt, daß ich mal sagen würde, Gott sei Dank, endlich reisen wir los nach Drogheda!« erklärte Justine. Zusammen mit Rainer stand sie am Trevi-Brunnen, weigerte sich jedoch, eine Münze hineinzuwerfen, was dem üblichen Ritual entsprochen hätte. »Wir wollten uns ein bißchen Frankreich und Spanien ansehen. Statt dessen befinden wir uns immer noch in Rom, und ich bin so überflüssig wie ein Nabel. Brüder!«
    »Hmm, du hältst Nabel also für überflüssig? Sokrates war der gleichen Meinung, wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Rainer. »Sokrates? Na, ich erinnere mich nicht daran! Komisch eigentlich, wo ich doch fast den ganzen Plato gelesen habe.« Sie drehte den Kopf und musterte ihn. Die normale Urlauberkleidung, so fand sie, paßte viel besser zu ihm als jener doch recht »würdige« Anzug, den er bei Besuchen im Vatikan trug. »Sokrates war absolut davon überzeugt, daß Nabel überflüssig seien. Um das zu beweisen, entfernte er seinen eigenen und warf ihn fort.« Um ihre Lippen zuckte es. »Und was geschah?« »Seine Toga fiel herunter.«
    Sie lachte: »Aha, jetzt fehlte ihm der Haken, und das ist also auch der Haken bei deiner Geschichte, bei der ich übrigens das schreckliche Gefühl habe, daß sie eine Moral enthält. Aber mal ganz davon abgesehen, daß man seinerzeit in Athen keine Togen trug - was interessiert dich eigentlich so an mir, Rain?« Sie sprach die Kurzform seines Namens nicht wie »Rein« aus, sondern etwa wie »Rähn« - das englische Wort für Regen.
    »Ich habe dir doch gesagt, wie mein Name ausgesprochen wird. Warum verhunzt du ihn so?«
    »Verhunzen? Guter Gott, du verstehst nicht.« Nachdenklich blickte sie ins Wasser des Brunnens, in dem viele Münzen lagen. »Bist du jemals in Australien gewesen?«
    »Nun, Schätzchen, zweimal war ich drauf und dran. Aber ich hab’s jedesmal gerade noch abbiegen

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