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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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zunehmend ihre Beziehungen zu welchem westdeutschen Kabinettmitglied?«
    »Woher sollten die wissen, wie lange wir einander schon kennen?« fragte er sehr gelassen.
    Justine ließ ihren Blick mit unverkennbarer Befriedigung über ihn hinweggleiten. Auch er war dem Trend zu größerer Lässigkeit in der Kleidung, der sich in der europäischen Mode allgemein bemerkbar machte, offenbar keineswegs abgeneigt. Immerhin hatte er den Mut, eines dieser Netzhemden zu tragen, die es italienischen Männern ermöglichten, die Pracht ihrer behaarten Brust zu demonstrieren. »Du solltest nie wieder einen dieser förmlichen dunklen Anzüge samt steifem Hemdkragen und Krawatte anziehen«, sagte sie plötzlich. »So? Und warum nicht?«
    »Dein Stil ist unbedingt der Machismus - du weißt schon, so wie du’s jetzt hast, mit Kettchen und goldenem Medaillon auf haariger Brust. Wenn du einen Anzug trägst, denkt man, du hast Bauch, was überhaupt nicht stimmt.«
    Einen Moment sah er sie überrascht an. Dann wurde in seinen Augen jener Ausdruck wach, den sie seinen »konzentrierten Denkblick« zu nennen pflegte. »Erstens«, begann er. »Was ist erstens?«
    »In den sieben Jahren, seit wir uns kennen, hast du über mein Äußeres noch nie eine Bemerkung gemacht, es sei denn, eine ironische.«
    »Oh, wirklich?« fragte sie ein wenig betroffen. »Lieber Himmel, ich habe oft über dich nachgedacht, ich meine, auch über dein Äußeres, aber bestimmt nie irgendwie - herabsetzend.« Aus irgendeinem Grund fügte sie hastig hinzu: »Ich meine, etwa darüber, wie du in einem Anzug aussiehst.«
    Er gab keine Antwort, doch sein Lächeln verriet, daß ihm sehr angenehme Gedanken durch den Kopf gingen.
    Während der gemeinsamen Fahrt im Mercedes genossen sie
    - auf Tage hinaus, wie sich herausstellte - die letzten ruhigen Augenblicke. Fast unmittelbar nachdem sie vom Besuch bei Kardinal de Bricassart und Kardinal di Contini-Verchese zurückgekehrt waren, brachte die Limousine, die Rainer gemietet hatte, die Ankömmlinge von Drogheda zum Hotel. Unauffällig beobachtete Justine, wie Rain auf ihre Familie reagierte. Allerdings: Familie stimmte nicht so ganz, denn nur die Onkel waren gekommen. Ihre Mutter war also bei ihrem Entschluß geblieben, nicht nach Rom zu kommen. Es erschien ihr unfaßbar und grausam. Ob es sie mehr Danes wegen oder um ihrer selbst willen schmerzte, hätte sie nicht sagen können. Aber jetzt lange darüber nachzudenken, hatte keinen Sinn. Da waren die Onkel - die Onks -, und um sie mußte man sich kümmern. Herrgott, wie scheu sie waren! Und welcher war eigentlich welcher? Je älter sie wurden, desto mehr ähnelten sie einander. Sie sahen aus wie - nun, wie australische Viehzüchter, die in Rom Urlaub machen. Sie hatten sich »stadtfein« gemacht, und zwar so, wie das in der Heimat wohlhabende Squatters zu tun pflegten: braune Zugstiefel, neutrale Hosen, braune Sportjacken aus sehr schwerer, flaumiger Wolle, mit seitlichen Schlitzen und einem Haufen aufgesetzter Lederflecken, außerdem weiße Hemden, gestrickte Wollschlipse und breitkrempige, oben flache graue Hüte. In Sydney wären sie, zumal während der Zeit der Royal Easter Show, ein gewohnter Anblick gewesen. In Rom waren sie das ganz entschieden weniger. Für Rain mußte man Gott wahrlich danken! Wie gut er doch mit ihnen umzugehen verstand. Daß jemand Patsy zum Reden bringen könnte, hätte nie einer geglaubt, aber er schaffte es tatsächlich. Da schwatzten sie alle miteinander wie uralte Freunde, und australisches Bier hatte er auch für sie beschafft, woher bloß? Er schien sie wirklich zu mögen. Gab es eigentlich irgend etwas, das er nicht erreichte, wenn er’s nur wollte, dieser Deutsche? Ja, ein Rätsel bist du, Rainer Moerling-Hartheim, Freund von Päpsten und Kardinalen, Freund von Justine O’Neill. Allmächtiger Gott, wenn ich mir vorstelle, ich säße hier in Rom mit den Onks fest, und kein Rain weit und breit!
    Aufmerksam hörte er zu, wie Bob ihm von der Schafschur erzählte, und da das für Justine nun wahrhaftig kein faszinierendes Thema war, vertrieb sie sich die Zeit damit, Rainer in seinem Sessel eingehend zu studieren. Und etwas Merkwürdiges geschah.
    Normalerweise war es bei ihr so, daß sie die gesamte körperliche Erscheinung eines Menschen praktisch auf den ersten Blick erfaßte. Mitunter jedoch gab es Umstände, die sie dabei in ihrer vollen Aufmerksamkeit beeinträchtigten, und dann blieb in der Regel der erste rudimentäre Eindruck haften, bis

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