Die Dornenvögel
sie dann vielleicht nach Jahren durch irgend etwas stutzig wurde und den Betreffenden auf einmal wieder wie einen Fremden sah. So wie es jetzt mit Rain der Fall war.
Die Erklärung lag natürlich auf der Hand. Die Umgebung, in der sie ihn seinerzeit kennengelernt hatte, das rote Gemach, die roten Kardinale, hatten ihre Aufmerksamkeit - und ihren Selbstbehauptungswillen - in so starkem Maße beansprucht, daß sie von ihm nur wahrnahm, was ins Auge sprang: den kraftvollen Körperbau, das Haar, den dunklen Typus. Als er sie dann anschließend zum Dinner ausführte, waren die optischen Eindrücke längst nicht mehr das Primäre. Da dominierte die Gesamtpersönlichkeit, bei der das Physische nur einen, und zwar einen eher untergeordneten, Teil für sie bildete. Sie war weit mehr an dem interessiert, was der Mann sagte, als daran, wie er aussah.
Und so entdeckte sie erst jetzt, nach so vielen Jahren, daß er eigentlich gar nicht häßlich war. Eher war er eine faszinierende Mischung aus Anziehendem und Abstoßendem. Fast sah er wie einer der römischen Kaiser aus. Kein Wunder, daß er die Stadt so liebte. Sie schien so etwas wie seine geistige Heimat zu sein. Sein Gesicht war breit, mit hohen starken Jochbögen und einer Adlernase, die jedoch keineswegs groß oder gar übergroß, sondern eher klein war. Die dichten, schwarzen Augenbrauen bildeten nahezu völlig waagrechte Striche, und die dunklen, weiblich-langen Wimpern überschatteten ausgesprochen hübsche dunkle Augen, die allerdings unter den Lidern meist halbverborgen blieben, als wolle sich ihr Besitzer nichts von seinen Gedanken oder Gefühlen anmerken lassen. Das Schönste an seinem Gesicht war jedoch zweifellos sein Mund, weder schmal- noch vollippig, weder groß noch klein, doch sehr gut, sehr deutlich geformt, fast ein wenig zu deutlich, als sollte der straffe Mund Geheimnisse über ihn hüten, die er sonst vielleicht unwillkürlich preisgegeben hätte. Es war wirklich faszinierend, ein Gesicht zu erforschen, das man so gut und dennoch überhaupt nicht kannte.
Plötzlich machte sie die bestürzende Entdeckung, daß nicht nur sie ihn, sondern auch er sie betrachtete, und kam sich auf einmal nackt vor: die beobachtete Beobachterin. Für ein oder zwei Sekunden blieben ihre Blicke ineinander verschränkt, und seine Augen waren jetzt weit geöffnet, doch spiegelte sich in ihnen weniger Verwunderung als vielmehr Gebanntheit. Dann blickte er wieder zu Bob, stellte ihm irgendeine Frage über Schurgeräte. Und Justine gab sich innerlich einen Ruck. Bildete oder redete sie sich da auch nichts ein? Nun, faszinierend war es schon, in dem Mann, der ihr über so viele Jahre hinweg ein guter Freund gewesen war, auf einmal einen möglichen Liebhaber zu sehen. Ganz und gar kein abstoßender Gedanke, wirklich nicht. Arthur Lestrange hatte eine Reihe von Nachfolgern gehabt, und es war durchaus nicht mehr so komisch gewesen wie in jener ersten - denkwürdigen - Nacht. Andererseits, habe ich seitdem wirklich nennenswerte Fortschritte gemacht? Jedenfalls ist es ganz nett, ab und zu einen Mann zu haben, und zum Teufel mit dem, was Dane gesagt hat: daß es der eine Mann sein sollte oder müßte. Das kommt bei mir gar nicht in Frage, also werde ich auch nicht mit Rain schlafen. Das würde zu vieles ändern, und ich würde meinen Freund verlieren. Ich brauche meinen Freund, ich kann’s mir nicht leisten, ohne meinen Freund zu sein. Und so wird er für mich bleiben, was Dane für mich ist - ein männliches Wesen ohne körperliche Bedeutung.
In der Kirche hatten zwanzigtausend Menschen Platz, also war sie nicht überfüllt. Kaum ein Gotteshaus auf der Welt, auf dessen Erbauung mehr Zeit, Geist und Genie verwendet worden waren; daneben verblaßten alle heidnischen Tempel der Antike zur Bedeutungslosigkeit. Bramantes Basilika, Michelangelos Kuppel, Berninis Säulen. Nicht nur für Gott war dies ein Monument, sondern auch für den Menschen. Tief unter dem confessio befand sich das Petrusgrab, hier war auch Karl der Große zum Kaiser gekrönt worden. Mit nach unten gekehrtem Gesicht, wie tot, lag er auf den Altarstufen. Was wohl dachte er? War da ein Schmerz in ihm, der kein Recht hatte, dort zu sein: der Schmerz darüber, daß seine Mutter nicht gekommen war? Durch Tränen beobachtete ihn Kardinal de Bricassart, und er wußte, da war kein Schmerz. Vorher: ja. Hinterher: gewiß. Doch nicht jetzt; jetzt war da kein Schmerz. Jetzt richtete sich alles in ihm auf den Augenblick, auf das
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