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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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Justine innerlich wirklich bereit. Und es konnte auch gar keinen Zweifel geben: Als er sie küßte, hatte sie empfunden, hatte tief empfunden - und dann von ihren eigenen Empfindungen nichts wissen wollen. Herrgott, wann nur würde sie endlich erwachsen werden?
    Er war eine Spielernatur, doch eine von jener Art, die zäh und geduldig auf ihre Chance zu warten versteht. Immerhin hatte es sieben lange Jahre gedauert, bis er glaubte, endlich am Ziel seiner Wünsche zu sein. Und dennoch war es zu früh gewesen? Nun gut, er würde weiter beharrlich auf seine Chance warten, ob sie nun morgen kam oder übermorgen, ob nächstes oder übernächstes Jahr. Er würde Justine genau beobachten und sein Ziel eines Tages erreichen. Aufgeben? Nein, das kam gar nicht in Frage.
    Fett, vierzig, faul, gefräßig - natürlich hatte er Justine mit dieser Charakterisierung seiner angeblichen Geliebten auf den Arm nehmen wollen, allerdings mit der versteckten Absicht, in scherzendem Tonfall scheinbar beiläufig Vorstellungen zu provozieren, in deren Mittelpunkt ganz eindeutig er selbst stand. Nun gut, Justine O’Neill, diesmal konnte ich dich zwar halten, aber nicht festhalten. Doch warten wir ab.
    Er hob den Kopf und sah das Licht hinter den Fenstern des Palais. Gut, er würde jetzt hinaufgehen, um mit Kardinal de Bricassart zu sprechen. Alt sah er aus, der Kardinal, und auch nicht gerade gesund. Vielleicht sollte man ihn dazu überreden, sich einer gründlichen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.
    Jetzt galten seine Gedanken ausschließlich dem Kardinal. Für Justine blieb später noch Zeit. Mit eigentümlicher, schmerzlicher Intensität dachte er an den Mann, welcher der Priesterweihe seines eigenen Sohnes beigewohnt hatte, ohne es zu wissen.
    Die Schuhe wieder an den Füßen, betrat Justine das Hotel und durchquerte rasch die um diese Zeit noch belebte Halle. Mit zu Boden gerichtetem Blick lief sie die Treppe hinauf. Oben kramte sie nervös in ihrer Handtasche, schien einfach den Zimmerschlüssel nicht finden zu können. Herrgott, er mußte doch da sein! Endlich hatte sie ihn und schloß auf.
    Im Zimmer saß sie dann auf ihrem Bett, starrte zum Rechteck des Fensters, hinter dem fahl der nächtliche Himmel schimmerte, und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es war furchtbar, es war entsetzlich. Sie hätte weinen mögen, schreien, fluchen. Es war eine Tragödie. Nie wieder würde es zwischen Rainer und ihr so sein wie früher. Sie hatte einen Freund verloren. Nein, nicht einen Freund, sondern den besten, den einzigen, der wirklich zählte.
    Lüge, Lüge, nichts als leere Worte. Denn plötzlich begriff sie, weshalb sie in so panischem Schrecken davongelaufen war, als wäre Rainers Kuß schlimmer als der schlimmste Mordanschlag. Es war richtig, und gegen diese Erkenntnis sträubte sie sich. Sie wollte sie nicht, die innere Bindung, die
    Verpflichtung, die Verantwortung. Sie wollte ihre Selbständigkeit, ihre Unabhängigkeit behalten. Dennoch wußte sie, daß ein Liebesverhältnis zwischen Rainer und ihr nicht nur eine Möglichkeit war, sondern eigentlich die einzige Möglichkeit, und dieses Eingeständnis besaß für sie etwas tief Demütigendes - denn sie war sich keineswegs sicher, daß sie überhaupt lieben konnte. Und es gab niemanden, der ihre bohrenden Selbstzweifel beseitigen helfen konnte. Liebhaber hatte sie nur ganz sporadisch gehabt, flüchtige Begegnungen, ohne jede Tiefe.
    Ihr war gar nichts anderes übriggeblieben, als vor Rain davonzulaufen. Denn hätte sie es nicht getan, so mußte unweigerlich über kurz oder lang der Augenblick kommen, in dem er entdeckte, wie unzulänglich sie war, in dem er hinter die Fassade aus Burschikosität und Flapsigkeit blickte und sich enttäuscht und angewidert von ihr abwandte. Doch der Gedanke, von ihm zurückgewiesen zu werden, war einfach unerträglich. Nie sollte Rainer hinter der Außenfront die wahre Justine sehen können.
    Zum Glück kannte er diese Justine bisher nicht. Nie hatte sie ihm mehr gezeigt als die Fassade, ganz patent soweit. Von dem Meer von Zweifeln in ihr wußte er nichts. Davon wußte niemand etwas. Doch, einer schon - Dane. Und das war das wunderbare an ihm: daß er seine Schwester liebte, obwohl er wußte, wie die wahre Justine aussah. Sie beugte den Kopf vor, lehnte ihn auf die kühle Nachttischplatte und spürte die Tränen, wischte sie fort. Und dann machte sie sich an die schwierige Aufgabe, ihren Kummer zu verdrängen. Doch es gelang. Sie hatte ja

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