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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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aufbrechen.
    Und doch fanden die Dorfbewohner auch ein wenig Geschmack an der Macht, die ihnen das Ringen zwischen Ivan und Angelo zukommen ließ. Montesecco konnte sich gegen einen von beiden entscheiden und ihn vor die Wahlstellen, ein Vermögen aufzugeben oder für alle Zeit als Mörder eines kleinen Jungen zu gelten.
    Um den Jungen verstreut lagen Seidenpapierbögen. Einen gelben und einen blauen hatte er in lauter Spiralen von circa zehn Zentimetern Durchmesser zerschnitten.
    »Was wird das?« fragte ich.
    »Ein Drachenschwanz.«
    »Geht dir diese ewige Drachenbastelei nicht auf die Nerven?«
    Der Junge legte die kleine Papierschere beiseite.
    »Ich habe dir ein anderes Spiel mitgebracht.« Ich gab ihm das Blatt Papier mit den beiden Silhouetten.
    Der Junge warf einen Blick darauf, drehte es auf den Kopf und wieder zurück, sagte: »Ich möchte lieber nach Hause.«
    »Eigentlich ist es kein Spiel, sondern ein Test«, sagte ich.
    »Trotzdem möchte ich lieber …«
    »Bevor du nicht alle Tests bestanden hast, kannst du nicht nach Hause.«
    Der Junge rührte sich nicht. Ich wußte nicht, ob er mich haßte oder ob er verstand, daß ich nur tat, was ich tun mußte. Ob ihm klar war, daß wir aufeinander angewiesen waren?
    »Was siehst du auf dem Bild?« fragte ich.
    »Einen Becher.« Der Junge hatte nur kurz hingeblickt.
    »Du meinst wahrscheinlich einen Kelch, oder? Zeig ihn mir!«
    Der Junge tippte auf die weiße Fläche in der Mitte des Papiers.
    »Das ist falsch. Schau genauer!«
    Der Junge schaute auf das Blatt oder tat zumindest so. Dann fuhr er die Linien zwischen der weißen und den beiden schwarzen Flächen nach. »Das ist doch ein Bech…, ein Kelch.«
    »Nein, das ist gar nichts. Nur leere weiße Fläche. Bedeutungsloser Hintergrund.«
    »Aber ich sehe doch …«
    »Wem traust du mehr, deinen Augen oder mir?«
    Der Junge antwortete nicht, doch ich sah ihm an, daß er nur nicht wagte, sich offen gegen mich aufzulehnen.
    Ich legte die Handfläche über die weiße Fläche auf dem Blatt. »Schau jetzt nur auf das Schwarze hier links! Erkennst du wirklich nichts?«
    »Ein Gesicht!« sagte der Junge.
    »Im Profil, ja! Das Gesicht von wem?«
    »Von einem schwarzen Mann.«
    »Nur die glühenden Augen fehlen«, sagte ich. »Und was ist hier rechts?«
    »Noch ein Gesicht von einem schwarzen Mann, der den anderen anschaut.«
    »Und dazwischen?«
    »Eine leere weiße Fläche.«
    »Wer hatte also recht? Deine Augen oder ich?«
    »Du«, sagte der Junge leise.
    »Man sieht nur, was man weiß«, sagte ich. »Merk dir das, Junge!«
    Gianmaria Curzio hatte sich ein neues Handy gekauft, nachdem er das alte irgendwo verloren hatte. Ein Siemens-Handy, das auch wirklich in Deutschland hergestellt worden war, wie der Verkäufer bei der Madonna und allen Heiligen beschwor. Curzio glaubte fest, daß sich die Deutschen bei all ihren negativen Eigenschaften in zweierlei Hinsicht vor anderen Völkern hervortaten: die Züge auf die Minute pünktlich ankommen zu lassen und zuverlässige technische Geräte zu bauen.
    Erstere Überzeugung gründete sich auf einen Besuch Curzios bei entfernten Verwandten im Ruhrgebiet Anfang der siebziger Jahre, letztere auf den Schwarzweißfernseher von Grundig, der ihn fünfundzwanzig Jahre lang nie im Stich gelassen hatte und wahrscheinlich noch weitere fünfundzwanzig Jahre funktioniert hätte, wenn Curzio nicht zum 75. Geburtstag von seiner Tochter einen taiwanesischen Farbfernseher geschenkt bekommen hätte, den abzulehnen er nicht den Mut gefunden hatte. Das mit der deutschen Wertarbeit stimme schon lange nicht mehr, hatte Marisa auf seine zaghaften Einwände gesagt, doch Curzio wußte, was er wußte. Er schaltete das Siemens-Handy ein. Schade, daß man keine Toten anrufen konnte!
    Er blickte auf den leeren Platz neben sich. Die Steinbank unter dem Kreuz war feucht. Wer da eine Weile sitzen blieb, würde sich garantiert den Tod holen. Überhaupt hatte sich Curzio in der letzten Zeit hier nicht mehr so richtig wohl gefühlt. Man sah zwar immer noch so weit über die Hügel wie früher, doch mal regnete es, mal war es zu windig, mal knatterte der Rasenmäher der Deutschen so laut herüber, daß einem die Gedanken erzitterten. Curzio stand auf. Er ging langsam zum Friedhof hinab. Mal sehen, was Benito so trieb!
    Der Blumenschmuck unterhalb der Grabplatte welkte vor sich hin. Curzio bückte sich mühsam, sammelte ein paar der unansehnlichsten Sträuße auf und trug sie nach draußen zur Mülltonne.

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