Die Drachen von Montesecco
Dann kehrte er zurück und las mit halblauter Stimme den Namen und die Lebensdaten Benito Sgreccias, die mit goldenen Lettern in den Stein graviert waren. Er schüttelte den Kopf und prüfte, ob die Schrauben der Marmorplatte festsaßen.
Daß der Junge entführt worden war, wunderte ihn überhaupt nicht. Irgend etwas hatte passieren müssen. Es hatte förmlich in der Luft gelegen. Am Tag von Benitos Tod war ein Schatten über Montesecco gefallen, der einen auch an den immer spärlicheren Sonnentagen frösteln ließ. Vielleicht war Curzio der einzige, der bemerkt hatte, wie sich das Licht in den Gassen verdüstert hatte, wie der Morgennebel, der aus den Tälern heraufstieg, sich nicht auflöste, sondern durch die Haut drang und die Knochen aufweichte. Curzio fragte: »Was meinst du dazu, Benito?«
Benito antwortete nicht. Es war fast wie früher. Zu solchen Fragen hatte Benito immer geschwiegen, und eigentlich hatte er damit ja auch recht. Um aussagekräftige Antworten zu bekommen, mußte man die richtigen Fragen stellen. Curzio spürte, daß ein kühler Wind aufkam, und hätte zum Aufwärmen gern einen Grappa gekippt, doch er hatte die Flasche nicht dabei. Er fragte: »Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entführung des Jungen und deinem Tod, Benito?«
Er horchte. Irgendwo hinter dem Hügel bimmelten die Glöckchen von Luigis Schafen. Curzio stellte sich vor, daß Benito in seinem Sarg den Mundwinkel hochzog. Natürlich gab es einen Zusammenhang, das war doch offensichtlich.
Der Wind raschelte durch die vertrockneten Blumen zu seinen Füßen. Er trieb den Zellophanstreifen einer Zigarettenpackung vor sich her, legte ihn ab, schob ihn hierhin und dorthin, wirbelte ihn wieder hoch und blies ihn über die Grasfläche fort. Man mußte am Anfang anfangen! Die Entführung, der Streit ums Testament, das Testament selbst, Benitos drei Tage mit den römischen Nutten, sein Rückzug in den Monaten davor, all das wäre ohne die fünfeinhalb Millionen Euro nie geschehen. Die hatten alles andere in Bewegung gesetzt. Curzio klopfte an die Marmorplatte und fragte: »He, Benito, woher zum Teufel hast du das verdammte Geld?«
Ein paar Momente lang spürte Curzio überdeutlich seinen eigenen Herzschlag, zu dem der Wind schnaufte wie nach einer großen Anstrengung. Dann flaute er ein wenig ab und begann Curzio ins Ohr zu flüstern. Es dauerte ein wenig, bis er die Worte verstand, doch bald wurden sie klar und deutlich, und ihm schien fast, daß es Benitos Stimme war, mit der der Wind wisperte: »Finde es doch heraus, Gianmaria Curzio!«
Curzio nickte. Das würde er tun. Er würde herausfinden, wie Benito sein Vermögen gemacht hatte. Und was danach geschehen war.
»Danke, Benito!« sagte Curzio. Er strich noch einmal über die Steinplatte. Ihn schmerzte, daß es da drin so dunkel war. Langsam ging er zum Dorf zurück, hörte den Wind in den Büschen am Straßenrand rascheln, verschnaufte kurz, bevor er das Tor von Montesecco passierte, und klopfte gleich darauf bei den Sgreccias an. Angelo war nicht zu Hause, und Elena fragte ein wenig mißtrauisch, ob Curzio keine anderen Probleme habe und wozu er denn den Namen des Börsenmaklers benötige.
Curzio beugte sich vor und sagte hinter vorgehaltener Hand, er befürchte, daß Ivan Garzone in seinem verdammungswürdigen Versuch, den Sgreccias das ererbte Vermögen zu entreißen, so weit gehen könnte, dessen rechtmäßigen Erwerb in Frage zu stellen. Dem müsse man entgegenwirken. Elena sah ihn skeptisch an, doch da sie einen erklärten Verbündeten gegen die Ansprüche Ivans offensichtlich nicht verprellen wollte, rückte sie die Telefonnummer des Brokers heraus, der Benito Sgreccias Geschäfte an der Mailänder Börse getätigt hatte.
Auf dem Weg nach Hause überlegte sich Curzio die Fragen, die er stellen wollte. Erst als er auf seinem Bett saß und die Nummer schon eingetippt hatte, fiel ihm ein, daß der Broker wahrscheinlich gar keine Auskunft erteilen würde.
»Silvio Forattini«, meldete sich eine etwas zu gut aufgelegte Männerstimme in genau dem Ton, der Curzio bei einem Gemüsehändler ziemlich sicher sein ließ, daß die zweite Lage Tomaten an der Unterseite angeschimmelt war.
»Hier Sgreccia«, sagte Curzio aus einer spontanen Eingebung heraus, »ich …«
»Wie schön, Herr Sgreccia, wieder mal von Ihnen zu hören«, sagte der Börsenmakler. »Wie geht es Ihnen denn so? Gesundheitlich alles in Ordnung?«
»Äh«, sagte Curzio. Er dachte an den Eichensarg in der
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