Die Drachen von Montesecco
Wandnische des Friedhofs. Er räusperte sich. Er sagte: »Na ja. Man ist ja schon froh, wenn man keine Schmerzen hat.«
»Gut, schön, das freut mich.« Forattini schien kaum zugehört zu haben. »Ich wage ja kaum zu hoffen, daß Sie wieder ins Geschäft einsteigen wollen. Zugegeben, die Stimmung ist im Moment etwas gedrückt, aber das eröffnet ja auch jede Menge Chancen. Antizyklisch handeln, das ist das Gebot der Stunde! Und Sie haben Ihren Instinkt ja schon mehr als eindrucksvoll unter Beweis gestellt.«
»Ja«, preßte Curzio hervor. Instinkt, antizyklisch, gedrückte Stimmung. Die Wörter umschwirrten Curzio, doch er bekam sie nicht zu fassen. Sosehr er sich auch bemühte, konzentriert bei der Sache zu bleiben, war da etwas Fremdes, das ihn lähmte, ihn einschnürte. Er fühlte sich wie eingesperrt in einen dunklen, engen Raum, lebendig begraben in einem Sarg in einer gemauerten und fest verschraubten Wandnische, aus der man erst in vielen Jahrzehnten, wenn niemand mehr da war, der noch deinen Namen kannte, den Staub ausräumen würde, zu dem die Knochen zerfallen waren.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Sgreccia?« fragte Forattini.
Curzios linke Hand krallte sich in die Tischplatte. Ihm war, als werde es im Zimmer dunkler. Als zerfalle sogar das Licht zu Staub. Plötzlich schien es ihm ungeheuer bedeutsam, begriffen zu haben, daß alles zerfiel.
»Herr Sgreccia?« In Forattinis professionelle Leutseligkeit mischte sich eine Spur Mißtrauen.
Curzio wischte sich über die Stirn. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Das Licht war so hell wie eh und je. Es war nur ein kleiner Aussetzer gewesen, ein Schwindelanfall. Es war schon wieder vorbei. Curzio sagte: »Benito Sgreccia ist tot. Ich bin sein bester Freund.«
»Oh«, sagte Forattini.
»Es gibt da ein paar offene Fragen, die ich gerne …«
»Mein aufrichtiges Beileid, Herr …?«
»Curzio, Gianmaria«, sagte Curzio. »Mich würde zum Beispiel interessieren, ob Benito Sgreccia tatsächlichfünfeinhalb Millionen mit Börsenspekulationen verdient hat.«
»Gianmaria Curzio«, wiederholte Forattini langsam. So, als ob er sich den Namen aufschriebe.
»Wenn ja, wie hat er das gemacht, wenn er doch keine Ahnung von Börse und Wirtschaft hatte? Und wer wußte darüber Bescheid?«
»Herr Curzio«, sagte Forattini, »solche Geschäftsinformationen sind streng vertraulich. Wenn Sie bei mir Kunde wären, würden Sie auch nicht wollen, daß ich alles über Sie in die Welt hinausposaune.«
»Benito ist tot. Der hat nichts mehr dagegen«, sagte Curzio, und obwohl er noch ein paar Minuten auf den Börsenmakler einredete, gelang es ihm nicht, ihn umzustimmen. Forattini ließ sich nur zu dem Satz herab, daß es sich bei Benito Sgreccia wirklich um eine außergewöhnliche Persönlichkeit gehandelt habe, mit der Geschäfte zu machen ein Vergnügen gewesen sei.
Die Mafia gibt es nicht. Hat es nie gegeben. Und wenn es sie gegeben hätte, dann höchstens in den abgelegensten Gebieten Siziliens, wo halbleibeigene Bauern sich im 19. Jahrhundert gegen die Zumutungen der Grundherrn organisieren mußten.
Die neapolitanische Camorra und die kalabresische ’Ndrangheta gibt es genausowenig. Sicher wird gedealt, wird hier und da ein Geschäft überfallen, wird ab und zu ein Beamter geschmiert, und es kommt auch durchaus vor, daß ein paar Kriminelle ihre Streitigkeiten untereinander mit Gewalt austragen. Doch wo passiert das nicht? Existiert irgendwo in der Welt eine Insel der Seligen ohne Verbrechen?
Mafia, Camorra, ’Ndrangheta – das sind alles Erfindungen, Mystifikationen, konstruierte obskure Mächte, deren Existenz nur deswegen so hartnäckig behauptet wird, weil es bestimmten Leuten sehr zupaß kommt. Cui bono? Werprofitiert von diesen Hirngespinsten? Ist es ein Zufall, daß das sogenannte organisierte Verbrechen ausgerechnet die Regionen Italiens beherrschen soll, in denen die staatlichen Institutionen am offensichtlichsten versagen? Wie soll denn ein unfähiger, korrupter und nur auf den eigenen Vorteil bedachter Politiker seinen Wählern sonst erklären, daß nichts vorangeht? Daß keine Arbeitsplätze geschaffen werden, Nahverkehr und Gesundheitswesen im Chaos versinken, Autobahnen ins Nichts gebaut werden, Erdbebenopfer jahrelang vergeblich auf versprochene Finanzhilfen warten und und und.
Natürlich, die Mafia ist schuld, die Camorra, die ’Ndrangheta, ungreifbare Geheimbünde mit lächerlichen Riten, angeborenem Blutrausch und dem einzigen Ziel,
Weitere Kostenlose Bücher