Die Drachen von Montesecco
konnte!
»Du meinst, das war gar nicht der wirkliche Grund?«
»Irgendwer muß dem Jungen doch zu essen bringen.« Dem Jungen? Wen interessierte denn jetzt der Junge? Es ging doch um den Tod Benitos! Und darum, daß er, Curzio, auf dem besten Weg war, einen Mord aufzuklären.
»Dann müßte er Minh ja hier gefangenhalten! Schauen wir in der Kapelle nach!« sagte Milena.
Die wollten doch nur von ihren eigenen Verbrechen ablenken! Curzio mußte die Dinge ins Lot rücken. Er mußte sofort aus seinem Versteck kriechen, Angelo zur Rede stellen und ihn als Vatermörder entlarven. Curzio legte die Fingerspitzen an die Verschlußplatte. Dann hielt er inne. Er stellte sich vor, wie Angelo mit dem Gewehr im Anschlag ein paar Schritte entfernt lauerte. Wie er um die eigene Achse wirbeln würde, wenn sich die Verschlußplatte des Grabs bewegte. Wie er abdrücken würde, sobald Curzio den Kopf aus der Grabnische geschoben hätte. Notwehr, würde Angelo behaupten. Ich dachte, der Alte hätte eine Waffe auf mich gerichtet, würde er sagen, und die anderen, die er davon überzeugt hatte, daß Curzio ein skrupelloser Entführer sei, würden nicken und höchstens darüber diskutieren, ob es überhaupt der Mühe wert sei, seine Leiche aus dem Grab hervorzuziehen, oder ob sie gleich die Platte davorschrauben sollten. Curzio brach der Schweiß aus. Ihm war heiß. Seine Ellenbogen schmerzten. Die Grabnische war enger, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Und die Luft stickiger.
»Nichts«, sagte Milena draußen.
»Er kann doch nicht vom Erdboden verschluckt worden sein«, sagte Lidia.
»Ich bleibe hier«, sagte Angelo. »Irgendwann kommt Curzio wieder, und dann hat er einiges zu erklären.«
Du verdammter Heuchler! dachte Curzio. Daß er erklärte, wer Benito umgebracht hatte, war doch genau das, was Angelo zu verhindern suchte. Curzio war sich jetzt sicher, daß Angelo die Entführung nur benutzte, um ihn leichter beseitigen zu können.
»Ciao, ci vediamo«, murmelten draußen ein paar Stimmen. Irgendwer setzte sich geräuschvoll in den Klappstuhl. Etwas Metallenes schlug gegen die Friedhofsmauer. Es konnte ein Gewehrlauf sein. Weiter entfernt knirschten die Scharniere des Friedhofstors, dann wurde der Riegel vorgeschoben. Nichts war mehr zu hören. Curzio lag stocksteif in einer Grabnische, vor der ein Mann saß, der ihn umbringen wollte. Curzio fragte sich, ob Angelo hiergeblieben war, weil er etwas bemerkt hatte. War ihm die angelehnte Verschlußplatte aufgefallen? Würde er sie gleich zur Seite schieben, Curzio den Gewehrlauf ins Gesicht drücken und höhnisch sagen, daß er sich genau das richtige Versteck ausgesucht habe?
Curzio schloß die Augen. Er war achtzig Jahre alt geworden, hatte den Krieg überlebt, ein ganzes Arbeitsleben, seine Frau und auch Benito Sgreccia. Zwar hätte er noch gern diesen Fall gelöst, aber sonst ging ihn das Leben nichts mehr an. Sollten sie sich doch betrügen und entführen und ermorden! Sollten sie sich doch an die Mafia verkaufen und sich die Geldbündel in die gierigen Mäuler stopfen! Sollten sie doch Montesecco niederreißen, wenn es ihnen behagte. Er mußte das nicht mehr miterleben. Vielleicht war es sogar besser, wenn er in einer Minute starb statt in ein paar Monaten oder Jahren. Einen Schluck Grappa würde er vielleicht noch gern trinken und kurz den Wind auf seiner Haut spüren, während er vollerVerachtung vor Angelo ausspuckte. Curzio öffnete die Augen und starrte auf den Spalt, den die Verschlußplatte ließ. Der Lichtstreifen blieb unverändert, kein Laut war zu hören.
Warum tat Angelo nichts? Warum handelte er nicht endlich? Einer, der seinen eigenen Vater umgebracht hatte, würde doch bei einem anderen alten Mann keine Skrupel bekommen. Schon gar nicht, wenn er hoffen konnte, dadurch seine Haut zu retten. Curzio überlegte, was Angelo von seinen Nachforschungen wissen mochte. Am Anfang war Curzio viel zu unvorsichtig vorgegangen. Daß er praktisch jeden im Dorf mehrfach ausgequetscht hatte, konnte Angelo nicht verborgen geblieben sein. Und genausowenig, daß er des Vatermords verdächtigt wurde. Jetzt erst fiel Curzio auf, daß ihn Angelo deswegen nie zur Rede gestellt hatte. Wäre das nicht die natürlichste Reaktion gewesen?
Aber Angelo hatte ruhig zugesehen, war wie die Spinne im Netz sitzen geblieben und hatte gewartet, bis sich Curzio in den von ihm gelegten Fäden verheddern würde. Und nun lag Curzio in einer sechzig mal achtzig mal zweihundert Zentimeter
Weitere Kostenlose Bücher