Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
Vom Netzwerk:
nie mehr von ihnen getrennt werde.‹
    ›Gewährt!‹ sagte die Krähe. Sie flatterte dem kleinen Jungen von Ast zu Ast voran, bis sie das Ende des Walds erreichten. Es war Nacht geworden, doch aus der Dunkelheit blinkten dem Jungen Lichter entgegen, ganz wie er es sich gewünscht hatte. Die Krähe flatterte in den Wald zurück, und der kleine Junge ging auf die Lichter zu. Er erreichte eine Mauer und trat durch ein schmiedeeisernes Tor. Als er es hinter sich geschlossen hatte, fand er sich in einem Friedhof wieder. Kein Mensch war zu sehen, und die Lichter waren die Grablichter, die vor den Wandnischen der Toten flackerten. Der Junge trat an eine der Grabplatten und las darauf den Namen seiner Mutter und den Namen seines Vaters. Da wußte er, daß seine Eltern tot waren und es ihm nichts nützte, daß er sie wiedergefunden hatte. Er wollte fliehen, aber das Friedhofstor ließ sich nicht mehr öffnen, und die Mauer war viel zu hoch, um darüberzuklettern. So setzte sich der kleine Junge vor das Grab seiner Eltern und starb. Jetzt würde er nie mehr von ihnen getrennt werden. Auch sein letzter Wunsch hatte sich erfüllt.«
    Der Junge hatte die Augen zugekniffen. Ich wußte nicht, ob er mir bis zum Ende zugehört hatte oder vorher eingeschlafen war.
    »Ich muß jetzt gehen«, sagte ich.
    Der Junge schlug die Augen auf. Mit dünner Stimme sagte er: »Bleib bitte da!«
    »Ich komme ja wieder.« Ich stand auf.
    Die Flasche Grappa hatte Gianmaria Curzio geleert, den Schafskäse und die Teigfladen hatte er nicht angerührt. Ihm war nicht nach Essen zumute. Wie lange er schon in der stockdunklen Grabnische eingeschlossen war, wußte er nicht. Ewigkeiten, vermutete er. Lange genug jedenfalls, um schon tausend Tode gestorben zu sein. Er war erstickt, bei lebendigem Leib verfault, an Herzrasen krepiert, ihn hatte einstürzender Zement erdrückt, und vor Todesangst hatte er sich selbst erdrosselt. Doch er lebte noch immer. Er atmete schwer, aber er atmete.
    Mit all seiner Kraft und all seinem Willen hatte er sich gegen die Verschlußplatte gestemmt. Immer wieder hatte er um Hilfe gebrüllt, was seine Lungen hergaben. Er hatte es mit Klopfzeichen versucht, auf die nicht einmal Benito geantwortet hatte. Er hatte die leere Grappaflasche zerschlagen und mit einer Glasscherbe einen Spalt an der Kante der Verschlußplatte auszuschaben versucht. Sogar die Rückwand der Grabnische hatte er Zentimeter für Zentimeter abgetastet, um vielleicht eine Stelle zu finden, an der er ins Freie durchbrechen konnte. Alle Bemühungen waren vergeblich gewesen, und jetzt konnte er nicht mehr. Er wollte auch nicht mehr. Er legte den Kopf auf die verschränkten Unterarme, schloß die Augen und wartete auf den Tod. Vielleicht würde er ihn holen, während er schlief.
    Ein paar Minuten lang war ihm die Brust noch eng, zuckten noch Schreckensbilder durch sein Hirn, dann atmete er ruhiger, und auch seine Gedanken sammelten sichlangsam. Vielleicht war es an der Zeit, sein Leben noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen! Nicht chronologisch von Kindheit an. An dem Ort, zu dem er gleich aufbrechen würde, brauchte er keinen vollständigen Lebenslauf vorzulegen. Curzio wollte sich auf ein paar schöne Momente beschränken. Solche, in denen er gespürt hatte, am Leben zu sein, und dankbar dafür gewesen war. Besser noch wäre, an gar nichts bewußt zu denken, sondern einfach loszulassen und zu sehen, welche Erinnerungen sich von selbst einstellten.
    Mit seinem Leben konnte Curzio zufrieden sein. Selten hatte er Hunger leiden müssen, er hatte sich durchgeschlagen, war zwar nie aus Montesecco weggekommen, aber wieso hätte er auch gehen sollen? Seine Freunde lebten hier, hier hatte er seine Frau geheiratet und eine Familie gegründet. Hier kannte er jedes Haus und jede Hundehütte. Hier wußte er, wo er am ersten warmen Frühjahrstag die Sonnenstrahlen einatmen und unter welchem Baum er bei brütender Sommerhitze Schatten finden konnte.
    Am wohlsten hatte er sich unter Godis alten Olivenbäumen gefühlt. Früher hatte er manchmal Stunden dort gesessen, den Kopf an einen der knorrigen Stämme gelehnt und die Augen halb geschlossen, so daß die verkrümmten Äste wie die Gliedmaßen von Fabelwesen wirkten, während sich die Blätter über ihm in silbernes Licht auflösten. Der Wind pfiff eine Melodie, die selbst den Steinen Leben einhauchte. Die Blätter flüsterten Curzio ihre Geheimnisse zu, die Schatten zitterten, als würden sie gleich vom Boden auffliegen,

Weitere Kostenlose Bücher