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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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wenig Luft zu hecheln. Doch Curzio schrie nicht. Er konnte nicht. Und vielleichthatte er ja Glück, vielleicht schloß die Platte nicht luftdicht ab, vielleicht reichte es fürs Atmen, so daß er noch ein paar Tage vor sich hatte, bis er verdurstete.
    In ein paar Tagen konnte viel geschehen. Er würde vermißt werden. Sie würden ihn suchen. Vielleicht würde ihn jemand finden, der ihn nicht sofort umbringen wollte. Curzio hatte seinen Grappa, er hatte ein paar Piadine und ein Stück Pecorino, er war zäh genug, um eine ganze Weile durchzuhalten. Wenn er in der ewigen Nacht nicht durchdrehte. Wenn er sich nicht den Schädel an der Zementdecke einschlug, weil er es nicht aushielt, dazuliegen wie eine langsam verwesende Leiche. Wenn ihn die Vorstellung, lebendig begraben zu sein, nicht sowieso erstickte, egal, ob genug Luft vorhanden war.
    »Angelo!« flüsterte Curzio.
    »Mach auf, Angelo!« rief er.
    »Um Himmels willen, hol mich hier heraus, Angelo!« brüllte er. Die Worte brachen an den engen Wänden der Grabnische und stürzten über ihm zusammen. Ein dumpfer Hall klang in seinen Ohren nach. Von draußen hörte er nichts.
    »Angelo, bitte!« wimmerte Curzio. Er trommelte gegen die Steinplatte vor sich. Er horchte. Nichts. Da war keiner mehr. Außer Benito Sgreccia, der schräg oberhalb in einem Grab lag, das seinem zum Verwechseln glich. Aber Benito konnte ihm nicht helfen. Der war tot, und Curzio lebte.
    Noch.
    »Psst«, machte ich. Ich legte den Finger über die Lippen.
    »Was ist?« fragte der Junge leise.
    »Hörst du ihn nicht?«
    »Den schwarzen Mann?«
    »Na, wen sonst?«
    »Vielleicht ist es bloß der Wind, der durch die Mauerritzen pfeift«, flüsterte der Junge. Er zog die Decke vor seiner Brust zusammen.
    »Der Wind!« Ich kicherte. »Wenn das der Wind ist, fresse ich einen Besen. Hörst du nicht seine tiefe Stimme? Wie er draußen auf und ab geht und grummelt und murmelt, daß er gleich einem kleinen Jungen den Kopf abreißen wird. Der Wind redet doch nicht!«
    »Nein«, sagte der Junge.
    »Was nein?«
    »Der Wind kann nicht reden. Der ist ja kein Mensch.«
    »Eben!« sagte ich. Wir spitzten die Ohren, doch wir konnten kein Wort von draußen verstehen. Durch das an-und abschwellende Rauschen des Windes hörten wir nur halb ersticktes Gemurmel und das geheimnisvolle Rascheln der Blätter. Eine Krähe krächzte auf, als wäre sie aus einem Alptraum hochgeschreckt, und irgendwo – vielleicht bei dem Brunnenhäuschen drüben – ächzte ein Scharnier in die Nacht. Vorn am Haus schlug irgend etwas gegen Mauerwerk, in regelmäßigem, dumpfem Rhythmus. Fast hörte es sich an, als stapfe ein großer, schwerer Mann in Stiefeln langsam eine Steintreppe hoch.
    »Tipp … tapp … tipp … tapp«, machte ich. Der Himmel über dem geborstenen Dach war schwarzgrau. Kein Stern war zu sehen. Die Krähe krächzte noch einmal.
    »Ich habe Angst«, murmelte der Junge.
    »Soll ich dir ein Märchen erzählen?«
    »Ich will nach Hause«, sagte der Junge.
    »Es war einmal ein kleiner Junge, der wollte sein Glück machen und lief von zu Hause weg. Zwei Tage lang ging er geradeaus, und am dritten Tag kam er in einen Wald, der schnell wilder und wilder wurde. Schon waren die Bäume so hoch, daß der kleine Junge nicht mehr sah, wo die Stämme endeten, und die Zweige wurden so dicht, daß fast kein Tageslicht hindurchfand. Der Pfad verlor sich im Dickicht, und der kleine Junge stolperte über Wurzeln und schlug sich an umgestürzten Bäumen die Knie auf. Bald wußte er nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war, und noch viel weniger, in welche Richtung er gehen sollte. Er versuchte es hier und da, doch der Wald hörte nicht auf. Der kleine Junge setzte sich auf einen Baumstamm und wollte etwas essen, doch seine Vorräte waren schon zur Neige gegangen. Überall im dunklen Wald knackte und wisperte es, so daß der Junge große Angst bekam. Er dachte an seine Eltern zu Hause und begann bitterlich zu weinen. Er weinte so laut, daß eine große schwarze Krähe ihn hörte und heranflatterte.
    ›Ich habe mich verirrt‹, schluchzte der Junge, ›kannst du mir nicht helfen?‹
    ›Ich habe Mitleid mit dir‹, krächzte die Krähe, ›und deshalb hast du drei Wünsche frei. Aber überlege dir gut, was du dir wünschst!‹
    Der kleine Junge überlegte genau und sagte: ›Als erstes wünsche ich mir, daß dieser finstere Wald bald endet und ich wieder Licht sehe, als zweites, daß ich meine Eltern finde, und als drittes, daß ich

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