Die Drachen von Montesecco
wusch sie Mixer und Teigschüssel mit heißem Wasser und einer Unmenge Spülmittel ab. Auch Marisa konnte sorgfältig arbeiten, wenn es nötig war. Dann stellte sie sich ans Fenster und wartete.
Wie jeden Tag kam Lidia Marcantoni Punkt 16 Uhr auf ihrem Weg zur Kirche vorbei, wo sie mindestens drei Vaterunser und ein Dutzend Avemaria beten würde. Marisa behielt die Gummihandschuhe an und machte sich mitder Plastiktüte auf den Weg. Der Hinterhof von Lidias Haus grenzte an die Stadtmauer. Ganz hinten im Eck hatte sie einen Bretterverschlag eingerichtet, doch solange es hell war, liefen ihre fünf Hühner frei herum. Sie scharrten in der steinigen Erde, aus der kaum ein Grashalm wuchs.
»Putt, putt, putt«, machte Marisa und streute eine Handvoll Pizzastückchen aus. Die Hennen flatterten und gackerten und waren ganz wild darauf. Marisa leerte die Tüte vollständig. Sie wartete, bis die Hühner alles aufgepickt hatten. Ob sie Lidia überreden sollte, vorläufig keine Eier zu essen, weil das viele Cholesterin so schädlich sei? Aber eine solche Warnung würde Lidia spätestens dann verdächtig vorkommen, wenn ihre Hühner morgen früh tot im Stall lägen. Und das befürchtete Marisa sehr.
»Putt, putt, putt«, sagte sie noch einmal. Ihr taten die Tiere ja auch leid, aber irgendwie mußte sie doch überprüfen, ob Angelo, dem ihr Vater noch ganz andere Verbrechen vorwarf, sie mit dem Mehl vergiften wollte.
Auch Michele, dem Marisa auf dem Heimweg begegnete, stellte gerade Nachforschungen an. Als Privatdetektiv mit einiger Erfahrung in seinem Beruf bevorzugte er allerdings andere Recherchemethoden. Sein Auftraggeber Ivan Garzone ließ ihm völlig freie Hand, solange er sein Ziel, das Lösegeld wiederzubeschaffen, nicht aus den Augen verlor. Und das würde Michele schon deshalb nicht, weil er sich auf eine Erfolgsprämie eingelassen hatte. Normalerweise lehnte Michele solche Risikogeschäfte ab. Er hielt sich keineswegs für einen zweiten James Bond, der alle paar Monate zuverlässig die Welt rettete. Bei ihm ging durchaus mal etwas schief, und wenn er keinen Erfolg hatte, mußte er trotzdem auf seinen Tagessätzen bestehen, um die hungrigen Mäuler daheim stopfen zu können. Doch diesmal war das Angebot einfach zu verlockend gewesen. Ivan Garzone hatte unumwunden zugegeben, daß er ihm momentan nicht einmal die Benzinkosten zurücknach Rimini zahlen könne, doch dafür bot er ihm bei vollständiger Wiederbeschaffung des Lösegelds fünf Prozent davon als Honorar. Hunderttausend Euro! Dafür konnte man schon mal seinen Prinzipien untreu werden.
Und so spazierte Michele nun zum Dorfausgang, studierte für den Fall, daß ihn jemand beobachtete, interessiert die dort angebrachte Informationstafel zur Geschichte Monteseccos und ging dann weiter zu der Stelle zwischen Glas-und Altpapiercontainer, wo Catia das Lösegeld deponiert hatte. Von den ersten Häusern des Orts waren die Container nur etwa dreißig Meter entfernt, doch das links der Straße war von den Besitzern winterfest verrammelt worden und stand offensichtlich leer, während man vom rechten, in dem die Deutschen wohnten, wegen der dichten Hecke nicht hierhersehen konnte. Die Übergabestelle war nicht schlecht gewählt.
Michele versuchte sich in den Entführer hineinzuversetzen. Er musterte die Straße, die entlang der Zypressen zum Holzkreuz in der Spitzkehre führte, er wandte sich um und blickte in die andere Richtung. Unauffällig hierherzukommen war kein Problem. Gefährlich wurde es erst, wenn man mit zwei Plastiktüten voller Einhundert-Euro-Scheine ins Dorf zurückmarschierte. Wie leicht konnte einem da jemand über den Weg laufen! Michele sagte sich, daß er das Risiko vermieden hätte. Er wäre in die andere Richtung abgehauen. Und zwar möglichst schnell. An der Stelle des Entführers hätte er ein paar Tüten Abfall ins Auto geladen, wäre kurz hier stehengeblieben, hätte den Müll entsorgt, die Geldsäcke statt dessen hinter den Beifahrersitz gestellt und wäre zu irgendeinem Ort abgedüst, wo er das Geld sicher unterbringen konnte. In zehn Sekunden wäre alles vorbei gewesen.
Michele trat auf die Fußstange, die den Deckel des Hausmüllcontainers öffnete. Es stank nach irgendwelchen Chemikalien. Der Container war zu zwei Dritteln mit Abfalltüten gefüllt. Wenn es nur ein paar gewesen wären,hätte Michele vielleicht zu wühlen begonnen, um diejenigen zu identifizieren, die sich zuletzt hier aufgehalten hatten. Er ließ die Klappe wieder
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