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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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zufallen und schlenderte zur Steinbank unter dem Holzkreuz hinaus. Trotz des kühlen Winds setzte er sich. Herrgott, dieses Kaff hatte gerade mal fünfundzwanzig Einwohner! Da mußte doch herauszufinden sein, wer in einem ziemlich übersichtlichen Zeitraum an einem ganz bestimmten Ort zwei Millionen Euro aufgelesen hatte! Michele zog sein Notizbuch heraus und schrieb auf, was ihm zumindest wahrscheinlich erschien:
    1) Die Ballonjäger haben ein Alibi.
    2) Der Entführer hat Montesecco heute früh mit dem Auto verlassen.
    3) Er ist also mindestens achtzehn Jahre alt und besitzt einen Führerschein.
    4) In seinem Haus ist der Müll frisch geleert worden.
    Michele überflog seine Punkte. Er mußte zugeben, daß ein wenig Spekulation dabei war, doch man konnte es ja mal probieren. Er würde jetzt seine eigene kleine Rasterfahndung einleiten. Dazu brauchte er keine Riesendatenmengen und Supercomputernetze, sondern nur eine Aufstellung aller Einwohner Monteseccos. Per Handy rief er Ivan Garzone an, und der brachte die Liste eine Viertelstunde später an. Zusammen gingen sie sie durch. Wenn man Ballonverfolger, Kinder, Unmotorisierte und nachweislich im Dorf Gebliebene strich, blieben nur noch sechs Verdächtige übrig. Und dabei war Punkt vier in Micheles Notizbuch noch gar nicht berücksichtigt.
    Während Ivan in seine Bar zurückkehrte, harrte Michele am Ortseingang aus. Wenn hunderttausend Euro winkten, konnte man schon ein wenig frieren. Michele zog den Mantel enger und spazierte auf und ab, achtete aber darauf, die Abfallcontainer immer im Blick zu haben. Wer im Laufe des Tages volle Müllsäcke anschleppte, war allerWahrscheinlichkeit nach am Morgen noch nicht hier gewesen. Mit ein wenig Glück konnte Michele so noch ein paar Dorfbewohner als Täter ausschließen. Und die zwei oder drei, die dann übrigblieben, würde er mal genauer unter die Lupe nehmen.
    So verstrich der Tag in Montesecco. Es blieb ein kleines Dorf mit nur fünfundzwanzig Einwohnern, die sich viel zu gut kannten, und doch zerfiel das Gemeinsame in eine Vielzahl von Einzelwelten, die kaum etwas miteinander zu tun hatten. Fast wie in einer anonymen Großstadt lebte jeder für sich selbst und verfolgte Ziele, die der Nachbar nicht begreifen würde, wenn man sich die Mühe gemacht hätte, sie ihm mitzuteilen. Doch das tat man nicht. Man hatte Wichtigeres zu tun.
    Michele beobachtete Müllcontainer, Marisa Curzio kontrollierte in regelmäßigen Abständen, ob die Hühner Lidia Marcantonis noch gackerten, und mußte sich dazwischen Donatos immer farbenprächtiger ausgeschmücktes Jägerlatein anhören. Milena Angiolini versuchte vergeblich, einen bewegungsunfähigen Vucumprà zu überreden, sich ins Krankenhaus bringen zu lassen, während Ivan Garzone einen völlig unrealistischen Finanzierungsplan für den Montesecco-Windpark ausarbeitete und Matteo Vannoni die Handy-Verkaufsstellen der Umgebung abklapperte, nur um nicht über seine Tochter nachzudenken, die wiederum von Minute zu Minute unruhiger wurde, weil ihr Sohn trotz des bezahlten Lösegelds nicht auftauchte. Denn unter ihnen befand sich ein Entführer, dessen Gedanken man genausowenig kannte wie die der anderen und die man, wenn man ehrlich war, gar nicht kennen wollte.
    Die Sonnenstrahlen fielen zu schräg durch den geborstenen Teil des Dachs, um den Fußboden zu erreichen. Auch die Drachen, die längs der Wand aufgereiht waren, blieben im Schatten. Der Junge hatte sich eine Decke umgelegt und saß so unbeweglich zwischen ihnen, als bestünde er selbst nur aus Holz und Papier. Da mir kühl war, stellte ich mich in die Sonne. Ich rieb meine Hände. Ohne daß ich ihn etwas fragen mußte, begann der Junge zu sprechen: »Ich ließ meinen Drachen steigen und achtete nicht darauf, daß sich ein Auto auf dem Feldweg näherte. Als ich mich umdrehte, stand der Mann schon direkt hinter mir. Er packte mich und hielt mich fest. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht, weil ich zuviel Angst vor dem Mann hatte. Er war riesengroß, ganz schwarz angezogen und trug eine Maske über dem Gesicht, aus der die Augen hervorglühten. Er zischte mich an, daß ich keinen Ton sagen dürfe, sonst müsse er mich leider umbringen. Seine Stimme klang, als würde er beim Reden Feuer spucken. Fast wie von einem Drachen, aber Drachen, die Feuer spucken, gibt es nur im Märchen. Und Märchen sind ja bloß erfundene Geschichten. Der schwarze Mann schleppte mich zu seinem Auto und sperrte mich in den Kofferraum. Ich weiß

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