Die Drachenflotte (German Edition)
wohlhabend wirken. Er nahm sie bei den Händen und küsste sie auf beide Wangen. «Rebecca», sagte er. «Wir haben uns viel zu lang nicht gesehen.»
«Gibt es etwas Neues?»
Er schüttelte den Kopf. «Nichts.»
«Ihr sucht?»
«Natürlich.» Doch sein Blick war unruhig, sein Lächeln bemüht. «Du verstehst, dass wir auch unsere Familien ernähren müssen.»
«Natürlich, ihr müsst eure Familien ernähren», wiederholte Rebecca. Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte von einem zum anderen. «Mein Vater war gut zu euch. Er hat euch nie hungern lassen. Nie . Meine Schwester war eure Freundin. Sie hat sich um euch und eure Kinder gekümmert, wenn ihr krank wart. Aber jetzt, wo sie euch brauchen, müsst ihr eure Familien ernähren. Mein Vater und meine Schwester waren eure Familie. Glaubt ihr, sie wären zu Hause geblieben, wenn euch etwas zugestoßen wäre?»
Voll Scham neigten sie rundherum die Köpfe, eine Gemeinde armer Sünder vor ihrem Priester, der ihnen Feuer und Schwefel predigte. Sie öffnete die Heckklappe des Mitsubishi, zerrte den Sack Reis heraus, den sie in Toliara besorgt hatte, und ließ ihn zu Boden fallen. Zwei angebundene Zebus grasten unter einem knorrigen alten Baum und suchten mit schlagenden Schwänzen und zuckenden Muskeln die Fliegen zu vertreiben. «Wem gehören die?», fragte sie Jean-Luc.
«Meinem Vater. Aber –»
«Wie viel?»
«Sie sind nicht zu –»
«Wie viel?»
Er seufzte. «Drei Millionen.»
Sie holte ihren Geldbeutel heraus und gab ihm ihr ganzes Bargeld. «Den Rest bringe ich dir, wenn ich das nächste Mal in die Stadt fahre.» Er nahm das Geld nur widerstrebend, wollte etwas sagen, ließ es dann sein. «Ich brauche ein Messer», erklärte sie. «Wer hat ein Messer?»
In die Reihen kam nervöse Bewegung. Ein junger Bursche mit einer hässlichen Narbe von einer Gaumenspaltenoperation drängte sich gleich darauf zwischen den Leuten durch und hielt ihr ein Messer mit langer Klinge hin. Sie prüfte zuerst seine Spitze, dann die Schärfe der Klinge mit dem Daumen. Nicht so scharf, wie sie es gern gehabt hätte, und auch nicht so sauber, aber es würde genügen müssen. Sie klemmte ihren Arm wie einen Schraubstock um die Schnauze des Zebus und zwang den Kopf des Tieres in die Höhe. Es machte ein paar taumelnde Schritte, um das Gleichgewicht wiederzufinden, und lehnte sich vertrauensvoll an sie. Zebus waren kraftvolle Tiere, aber zur Fügsamkeit erzogen. Sie stieß das Messer durch die feste Haut des Halses in die weichen inneren Gefäße, spürte, wie seine Spitze den Kehlkopf durchbohrte, und hielt es einen Moment in dieser Stellung, bevor sie mit stoßenden Bewegungen seitwärts sägte. Sofort traf sie der Hitzestrahl, dann schoss ein Blutstrom hervor, der nach allen Seiten auseinanderspritzte, sodass die Leute schreiend zurücksprangen. Das Blut lief klebrig über ihre Hände, ihren Bauch und ihre Beine, während das Zebu, viel zu spät, röchelnd und bockend nach rückwärts zu springen suchte. Es fiel auf die Knie und dann auf die Seite, und sein Blut floss in schwächer werdenden Stößen und dünnerem Strahl auf die trockene braune Erde, während ein Auge vorwurfsvoll zu ihr aufblickte. «Da», sagte sie. «Das sollte euren Familien fürs Erste reichen. Gebt mir Bescheid, wenn ihr mehr braucht.»
Jean-Luc starrte sie an, wütend über den Gesichtsverlust, den er, wie er wusste, erlitten hatte. Sie wischte das Messer an ihrem Shirt ab, reichte es dem Jungen zurück und kletterte dann auf die Pritsche des Mitsubishi. «Drei Millionen für den, der meinen Vater findet», rief sie, durch das Blut mit einer gewissen grotesken Autorität ausgestattet. «Fünf Millionen, wenn er am Leben ist. Das Gleiche für meine Schwester. Habt ihr mich verstanden?» Sie musterte ihre Gesichter. Zehn Millionen Ariary waren für einen Madagassen eine Summe, die sein ganzes Leben verändern konnte. Und das Buschtelefon war ein wundersames Ding. Spätestens morgen würde sich die Nachricht an der ganzen Küste verbreitet haben. Was das Geld für die Belohnung anging, so würde sie sich darum kümmern, wenn es so weit war.
II
Alphonse und Thierry lösten die Leinen, holten das Segel und den Mast ein, und dann zogen sie alle vier gemeinsam die Piroge den Strand hinauf bis über die Hochwasserlinie. Auf einem flachen Stück Strand errichtete Thierry aus dem Segel und zwei Paddeln ein provisorisches Zelt, das gerade groß genug für alle war. Alphonse sammelte Holz und machte ein
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