Die Drachenflotte (German Edition)
Tages wird sie so weit sein und wird es uns wissenlassen. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Aber es gibt auch Zeiten, da fürchte ich, dass sie mir niemals verzeihen wird. Weshalb sollte sie auch? Meine Wutausbrüche ihr gegenüber waren unverzeihlich, und ich werde sie mir selbst niemals verzeihen. Wahre Reue sucht ohnehin nicht die Vergebung. Sie will sühnen. Ich musste dir damals, als du mich in dein Geheimnis eingeweiht hast, versprechen, dass ich es Rebecca niemals enthüllen werde. Aber damals hast du geglaubt, ich wäre ein guter Mensch, zur Selbstbeherrschung fähig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du gewollt hättest, dass es unsere Familie spaltet. Nein, das kann ich nicht glauben. Ich möchte es ihr sagen, Yvette. Ich möchte ihr alles erklären, damit sie es wenigstens versteht. Ich brauche ihre Vergebung. Bitte, mein Liebling; du musst einen Weg finden, mich von meinem Versprechen zu entbinden, sonst wird sie ihr Leben lang dafür bezahlen.
Die Sünden der Väter, weiß Gott.
Rebecca konnte nicht mehr. Sie stand auf und humpelte zur Haustür. Draußen sang sich ein Zweigsänger die Seele aus dem Leib. Sie musste an einen Nachmittag in ihrer Kindheit denken, als sie ihren Vater mit der abgedroschenen, doch grundlegenden Frage gequält hatte: Veranlagung oder Umwelt? Sie hatte solche Fragen weniger aus Neugier gestellt, vielmehr weil Adam sie mit so viel Freude und Leidenschaft beantwortet hatte und es damals noch ihr Schönstes gewesen war, ihn zu erfreuen.
Er hatte die Frage mit einem Experiment beantwortet. Typisch Adam. Zeigen ist besser als reden. Gemeinsam mit Emilia hatten sie im Wald eine riesige Voliere gebaut, hatten dann drei Eier aus dem nächsten Nest eines Kiritika-Buschsängers stibitzt und drei männliche Jungvögel von Hand aufgezogen. Sie kannte den Gesang der einheimischen ausgewachsenen Buschsänger: tiu-tiu-tiu-tii-tiu-tii-tiu-tiu-tii-tii. Während der Paarungszeit konnte man ihm gar nicht entkommen. Wenn ihre zahmen Buschsänger die gleichen Töne anschlugen, würde das zeigen, dass der Gesang angeboren war. Wenn sie stumm blieben oder andere Laute zwitscherten, war der Gesang erlernt. Es hatte Monate gedauert, bis ihre Frage beantwortet wurde und die zahmen Buschsänger ein Lied anstimmten, ein verkürztes tiu-tiu-tiu-tii-tiu-tii.
Veranlagung und Umwelt bestimmten das Verhalten gemeinsam.
Vor ihrem Fenster jubelte der Buschsänger weiter, als wollte er bersten vor Lebenslust. Im Rückblick schien es ihr grausam, diese frohen, vor Daseinsfreude strotzenden Sänger um einer Antwort willen gefangen gesetzt zu haben, die Adam ihr in einer Minute hätte geben können. Damals war ihr der Gedanke gar nicht gekommen. Die Welt war unglaublich sentimental geworden. Man konnte heutzutage nicht einmal mehr eine Schabe zertreten, ohne dass irgendein fanatischer Tierschützer einen zusammenbrüllte. Und natürlich würde einem niemals gestattet werden, mit Menschen zu experimentieren. Doch das Leben bescherte manchmal glückliche Zufälle: eineiige Zwillinge, die unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden, Pflege- und Adoptivkinder, Kinder, die heimlichen Liebesbeziehungen entstammten. Am Beispiel von Kuckuckskindern, die es weit häufiger gab, als viele glaubten, konnte man eine Menge über den Einfluss von Veranlagung und Umwelt lernen. Gentests zeigten, dass vielleicht eins von zehn Kindern, die in scheinbar stabile Beziehungen hineingeboren wurden, tatsächlich das Ergebnis eines Seitensprungs war. Eins von zehn! Wenn sie mit großen Familien zusammentraf, fragte sie sich manchmal im Stillen, wer aus der Gruppe wohl bei einem Gentest den Schock seines Lebens bekommen würde. Doch das war kein Thema, das man leicht ansprechen konnte. Die eigene Herkunft war ein so fundamentaler Bestandteil der Identität, dass Menschen häufig mit Wut und heftiger Abwehr reagierten, wenn sie auch nur vorsichtig in Zweifel gezogen wurde. Sie weigerten sich, auch nur die Möglichkeit zu erwägen, dass sie ein Kuckucksei sein könnten, ganz gleich wie zwingend die Beweise waren.
Es amüsierte Rebecca immer von neuem, wie rigide manche Leute waren.
Zorniges Babygeschrei riss sie aus ihren Überlegungen, und als sie zum Fenster hinausschaute, sah sie Therese mit Xandra und Michel auf dem Arm den Weg heraufkommen. Sie wollte ihr Versprechen einlösen und Rebeccas Verbände wechseln.
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Kapitel 29
I
V erdammt noch mal, pass doch auf», brüllte Boris, als schon wieder ein
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