Die Drachenjägerin 2 - Winter, M: Drachenjägerin 2
Zeitgefühl verloren. Wie lange noch, bis der König erwachte und sich im Sarg wiederfand?
Er hatte sich an diesem Gedanken festgehalten. Dass er die richtige Gelegenheit ergreifen musste, um wenigstens Pivellius zu retten, wenn er schon für sich selbst nichts mehr tun konnte. Würden sie aufhören, ihn zu quälen, wenn sie wussten, dass der König noch lebte? Doch es den falschen Ohren zu verraten, sodass Chamija davon erfuhr, würde seine gute Absicht zunichtemachen.
Manchmal war es ihm gleich. Wenn der Schmerz ihn übermannte, wenn die Welt, die nur noch aus seinem Körper bestand, in Flammen aufging, war es ihm völlig egal, dass der König in seinem Sarg sterben würde. Dass der alte Mann dort erwachte, im Dunkeln gefangen, und nach Luft ringen würde … so wie der Junge damals im Labyrinth. Wie alle Zauberer, die im Verlies saßen. Seine Schreie würden an der Decke abprallen. Niemand hörte auf jene, die unter dem Schloss schrien, in dieser Welt der Finsternis, in die kein Sonnenstrahl drang.
Pivellius würde sterben, und deshalb war es, als hätte Jikesch ihn bereits getötet. Als würde er die Hiebe verdienen, die ihm die Haut vom Fleisch rissen. Der Geruch des Blutes war ihm vertraut, ebenso der metallische Geschmack auf der Zunge. Es war, als wäre er in seine Kindheit zurückgekehrt, als die Welt nur aus Nacht und Entsetzen bestand.
» Du wirst den Weg finden«, sagte seine Mutter. » Den Weg hinaus. Folge dem Wind. Du bist ein Blatt im Sturm, kleiner Tensi, lass dich nach draußen wehen. Hörst du den Gesang des Windes im Gewölbe? Das Pfeifen, das Wimmern? Fürchte dich nicht. Folge dem Sturm.«
Aber da war kein Weg. Das Wimmern war sein eigenes. Die Wärter pfiffen. Die Peitsche fauchte und sang, und der Wind würde ihn diesmal nicht rufen. Er war kein Tensi mehr, seine Verwandten hatten die Stadt verlassen, ohne ihn. Die Wärter entdeckten das Bild auf seiner Haut, auf das er so stolz gewesen war, den Affen von Lanhannat, und als sie es ihm herausschnitten, wusste er, dass er nie wieder kämpfen würde.
» Holt … Arian.«
Irgendwie brachte er die Worte heraus. Der Prinz war der Einzige, dem er die Geschichte von dem lebenden Toten anvertrauen konnte. Die Augen wie blind spähte der Narr hinaus in die Düsternis des Kellers. Manchmal hängten sie ihn nach draußen, und der Wind kam und begrüßte ihn, und seltsamerweise fürchtete er sich nicht, während er dort draußen hing. Die Krähen schrien, als wüssten sie Bescheid. Das war der Weg zu Barradas. Wenn er starb, würde der Wind kommen und ihn mitnehmen.
Doch die Wachen holten ihn wieder zurück wie einen Köderfisch, der an der Angel hing, den sie regelmäßig ins Wasser warfen, um den Tod anzulocken, und machten weiter.
Chamija hatte recht gehabt: Es war wie ein zweites Leben. Jede Stunde maß ein Jahr. Er bekam ein zweites Leben, noch viel intensiver und greller und furchtbarer als das erste.
» Arian.« Sein Mund formte den Namen wie ein Zauberwort. Zwischendurch vergaß er, warum er die Silben herauswürgte, was an dem Namen wichtig war, der weder sein eigener war noch der eines Menschen, den er liebte. Es gab keine Liebe in dieser neuen Art von Existenz zwischen dem Ruf des Windes und den grausamen Händen, die ihn auf dieser Erde festhielten, damit er nicht davonflog. War er nicht schon immer leicht wie ein Vogel gewesen?
» Du mieses Stück Dreck.«
Jikesch öffnete die geschwollenen Augen und wunderte sich über das Gesicht des Prinzen. Es hatte sich in etwas Dunkles verwandelt, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Welcher Tag? Das hatte eine Bedeutung, wenn er auch nicht mehr wusste, welche. Es war wichtig, wie viel Zeit vergangen war, aber warum?
» Arbeitest du für Scharech-Par?«, fragte die kalte Stimme. » Machst du den Thron frei für den Tijoaner? Wäre ich der Nächste gewesen?«
Der Thron. Irgendetwas war mit dem Thron …
» Der König …« Jikeschs Zunge war schwer. Sie stieß gegen zersplitterte Zähne. Da war ein Mann, ein Zepter in der Hand … hatte er sie nicht alle ins Dunkel gestoßen? Ihn und seine Mutter und die anderen? War der König nicht der Hirte, der die Herde in den Stall trieb und die Tür zumachte – und dort drinnen wartete die Nacht?
Lebt, wollte er sagen. Leise, damit niemand sonst es hörte. Der König lebt. Das war die Botschaft. Er wusste nicht mehr, wer ihm aufgetragen hatte, das zu sagen. Das Bild eines blonden Mannes mit einem Buch unter dem Arm trat ihm vor die Augen. Wie war noch
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