Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes
der Luft lag ein metallischer Geruch und eine bleierne, vollkommene Stille. Kein Windhauch, keine Stimme, noch nicht einmal das Rauschen von Blättern oder das Singen eines Vogels in der Ferne. Nur die Reglosigkeit des Todes.
Soana hatte vor Entsetzen eine Hand vor den Mund gelegt: »Er ist also tatsächlich auch hier gewesen ...«
Rais' kleine Hände krallten sich in die Falten ihres langen Gewandes. In ihren Augen flackerte Hass. »Es wird nie ein Ende haben.«
Die beiden Zauberinnen hatten begonnen, zwischen den verstreut am Boden liegenden Leichnamen umherzustreifen, zwischen den Häusern dieses mit Schwertstreichen ausgelöschten Dorfes. Betäubt, wie in einem entsetzlichen Traum, wanderten sie umher, zwangen sich, Dinge zu betrachten, die ihr Blick fliehen wollte: Wohin sie auch schauten, überall sahen sie schmerzverzerrte Gesichter, vor Schreck geweitete Augen, Leichen am Boden. Da plötzlich ein Geräusch, so schwach, dass es auch ihrer Einbildung entsprungen sein konnte. Soana hatte sich ruckartig umgedreht. Doch einige Sekunden lang hörte sie nur wieder diese ohrenbetäubende Stille. Dann plötzlich wieder dieser leise Klagelaut. Sie kniete nieder und begann, zwischen den Leichen zu suchen, drehte sie um, suchte weiter.
»Was war das wohl«, fragte Rais kühl.
»Eine Stimme! Da muss jemand überlebt haben.«
Je näher sie der Quelle dieses Geräusches kamen, desto deutlicher wurde es. Es war kein Wehklagen. Und ebenso wenig das unterdrückte, verzweifelte Schluchzen eines Überlebenden. Es war kräftig und voller Leben. Das Weinen eines Kindes.
Unter dem Leichnam einer Frau entdeckte Soana ein Tuch, das sich leicht bewegte. Behutsam drehte sie den leblosen Körper um. Es war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, die ein Axthieb in den Rücken getötet hatte.
In ihren Armen lag ein Kind, ein kleines Mädchen, ein Säugling noch. Es schrie in forderndem Ton, so wie es Neugeborene tun, wenn sie Hunger haben oder gewickelt werden wollen. Soana nahm das kleine Mädchen hoch und zog das blutdurchtränkte Tuch fort. Sein Kleidchen war unbefleckt: das Kind unverletzt.
Rais war zu ihr getreten. »Ist es verletzt?« Sie war immer so direkt, so kühl. Nur wenn es um den Tyrannen ging, erstrahlten ihre Augen in einem finsteren, beängstigenden Glanz. Soana blickte das kleine Mädchen staunend an-. Sie konnte es kaum glauben, wie das Leben hier, rein und unerschütterlich, aus dem Tode erstanden war. »Nein, es scheint wohlauf. . . « Rais ergriff Soanas Arm und zwang sie, sich bis auf ihre Augenhöhe niederzubeugen, und betrachtete eine Weile aufmerksam den Säugling, bis sich plötzlich ihre Miene änderte. »Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte Soana zögerlich.
»Nein, aber ein vollkommen unverletztes Kind zwischen lauter Leichen muss ein Zeichensein. Ich werde meine Karten um Rat fragen, danach kann ich dir mehr sagen.«
Soana richtete sich wieder auf und begann, das kleine Mädchen in ihrem Arm hin und her zu wiegen und es mit leisen, sanften Worten zu beruhigen.
Rais blickte sich um. »Hier bleibt uns nichts mehr zu tun. Und wir sollten uns auch nicht zuviel Zeit lassen: Die Fammin können jederzeit wieder hier einfallen. Hülle das Kind gut ein, damit man es nicht sieht. Wir kehren zum Rat zurück.«
Soana gehorchte, und die beiden Zauberinnen verließen das zerstörte Dorf Soana hielt inne und betrachtete Nihal, die schweigend zugehört hatte. »Dieses Mädchen war die einzige Überlebende eines ganzen Volkes: die letzte Halbelfe der Aufgetauchten Welt. Wir beschlossen, sie ins Land des Windes mitzunehmen. Dort würde niemand ihrem Aussehen große Bedeutung beimessen ...«
Nihals Herz begann, schneller zu schlagen.
»Das Kind hatte große violette Augen, spitze Ohren und blaues Haar. Dieses Kind warst du, Nihal.«
Ein nicht enden wollendes Schweigen breitete sich im Raum aus.
Geduldig wartete Soana auf die Frage, die jetzt früher oder später kommen musste. Die Stimme des Mädchens war wie ein Hauch.
»Dann ... dann war Livon .. «
»Livon war ein ganz besonderer Mensch. Als ich dich zu ihm brachte, nahm er dich ohne Zögern bei sich auf und schwor, dass er dich immer, auch mit seinem Leben, beschützen würde. In der ersten Zeit haben wir dich gemeinsam großgezogen, doch dann gestaltete sich die Situation zunehmend schwieriger. Rais verließ den Rat. Und in Salazar begannen die Menschen über mich zu tuscheln, mit dem Finger auf mich zu zeigen und mich als Hexe zu verunglimpfen. So
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