Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes
war ich gezwungen, mich in dieses Haus hier zurückzuziehen. Und Livon kümmerte sich allein um dich. Er hat dich geliebt. Du warst ihm eine wirkliche Tochter, Nihal. Das weißt du.«
Soana streckte die Hand aus, um dem Mädchen über die Wange zu streicheln, doch Nihal warf unwirsch den Kopf zurück.
»Warum habt ihr mir nie etwas davon erzählt? Warum habt ihr das alles vor mir verheimlicht?«
»Weil wir uns wünschten, dass du solange wie möglich frei und unbeschwert dein Leben führen kannst. Sechzehn Jahre wiegte ich mich in der trügerischen Hoffnung, du könntest ein ganz normales Leben führen. Rais hatte etwas in dir erkannt, etwas von außerordentlicher Bedeutung für die Zukunft der gesamten Aufgetauchten Welt. Doch was genau, hat sie mir nie verraten. Ich hoffte, dass sie sich täuschte, dass dir nichts vorherbestimmt sei ... Doch Rais hat sich noch nie getäuscht... Ich wollte nicht, dass du es unter diesen Umständen erfährst. Es tut mir so Leid, Nihal.«
Doch Nihal hörte gar nicht mehr zu.
Sie dachte an Livon, der, ohne ihr Vater zu sein, sein ganzes Leben auf sie eingestellt und zum Schluss sogar für sie geopfert hatte.
Sie dachte daran, wie oft sie sich über ihre Mutter Gedanken gemacht hatte. Sie dachte an ihr Volk, das es nicht mehr gab.
Sie dachte an die Auslöschung eines ganzen Stammes.
Das war also der Hintergrund dieser Stimmen, dieser Träume. Es waren Schreie, die nach Rache, die nach Blut verlangten. Und sie verlangten es von ihr: der letzten, der einzigen Überlebenden eines ganzen Volkes. Tausendmal lieber wäre sie mit Livon gestorben, als hier in diesem Bett zu liegen, wie vernichtet vom Schmerz. Soana strich ihr eine Strähne aus der Stirn.
Dann stand sie auf und verließ wortlos den Raum.
10. Auf der Flucht
Die folgenden vier Tage verharrte Nihal in vollkommenem Schweigen. Sie lag in ihrem Bett, mit den Schmerzen in der Seite als ständiger Begleitung, blickte aus dem Fenster und sagte kein Wort.
Sie hatte viel nachzudenken, denn ihr war, als sei sie plötzlich ins Dasein eines anderen Menschen geschleudert worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es zu ihrem Leben gehört, morgens aufzuwachen, Livon zu hören, der mit seinem Hammer auf das Eisen einschlug. Soana aufzusuchen, bei ihr zaubern zu lernen und lange Gespräche mit Sennar zu führen. Das Schwert zur Hand zu nehmen, Krieger zu spielen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Und mit einem Mal war alles anders. Sie hatte getötet: Der Schwertkampf war kein Spiel mehr. Und Livon würde sie nie mehr wiedersehen, außer in ihrer Erinnerung, wie er leblos am Boden lag. Und das durch ihre Schuld.
Wer hatte ihn denn verwirrt mit ihrem Wahn, ständig kämpfen zu müssen? Sie. Wer hatte sich denn wie ein kleines Mädchen benommen und auch den Tod für ein Spiel gehalten? Sie. Und war sie nicht eine Gefahr, sie, die letzte Überlebende eines Volkes, das der Tyrann vom Erdboden vertrieben hatte? War sie es nicht, auf die es die Fammin abgesehen hatten, als sie in Livons Werkstatt eindrangen?
Nihal fühlte sich wie jemand, der allen nichts als Unglück bringt.
Die Besonderheiten ihres Aussehens hatte sie stets lediglich für Launen der Natur gehalten, doch in Wahrheit hatten sie eine schreckliche Bedeutung. Ihre Träume hatten ihr immer wieder gezeigt, was geschehen war, in brutaler Klarheit, so als wohne sie der Vernichtung als Zuschauerin bei. All das wusste sie jetzt durch Soanas Bericht. Sie hatte das Blutbad in ihren Träumen selbst erlebt.
In jeder Nacht dieser vier Tage quälten sie die zur Rache aufrufenden Stimmen ihres ausgelöschten Volkes.
In der letzten Nacht träumte sie von den Gesichtern der Brüder und Schwestern ihres Volkes: Jedes Gesicht kam ganz nah an sie heran, mit all seiner Verzweiflung, seiner Geschichte, und in jenen stummen Blicken erkannte Nihal die Endgültigkeit dessen, was geschehen war. Unter ihnen war auch Livon. In seinem Blick stand eine tiefe Traurigkeit, und mit leiser Stimme sprach er zu ihr: »Du hast mich sterben lassen, es ist deine Schuld, Nihal .. .«
Schweißgebadet und schreiend wachte sie auf. Sennar war sofort bei ihr. »Wieder ein Albtraum?«
Nihal nickte, schweratmend. »Ich bin allein, Sennar. Mein Platz ist nicht hier, unter den Lebenden, sondern bei meinem Stamm.« Sie blickte aus dem Fenster. »Warum lebe ich noch? Warum ist Livon für mich gestorben?«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es Sennar vorgezogen, sich nicht zu der Sache zu äußern. Er war
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