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Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes

Titel: Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Licia Troisi
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entstellten Mauern erkannte sie Geschäfte, Häuser, Versammlungssäle.
    Sie fand auch eine Werkstatt, die der von Livon ganz ähnlich war. Einige Räumlichkeiten waren noch intakt, viele andere waren ausgeweidet und fielen ins Leere ab. Irgendwann betrat sie einen Raum, den eine eingestürzte Wand in zwei Teile gespalten hatte. Als sie hinausblickte, sah sie die Reste des inneren Turmgartens, in dem die Bewohner früher einmal ihre Gemüsegärten bestellt und im Schatten hoher Bäumen die Sommerfrische genossen hatten. Der Garten war fast vollständig zerstört. Doch in der Mitte erhob sich noch ein einzelner Olivenbaum. Sein knorriger Stamm erzählte die Geschichte eines langen, mühseligen Lebens. Aber er hielt stand. Für Nihal war er so schön wie eine Skulptur.
    Auch dieser Anblick rief wieder Erinnerungen wach. Sie dachte an ihre Aufnahmeprüfung im Bannwald, als sie das Herz der Erde hatte schlagen hören. Und auch jetzt hatte sie wieder diesen verborgenen Herzschlag im Ohr, wie zum Beweis, dass ihr Band zur Natur, obwohl sie sich für den Krieg entschieden hatte, noch nicht zerrissen war.
    Und plötzlich wurde sie überschwemmt von einem ganzen Ozean von Gefühlen: Sehnsucht, Wehmut, Reue. Sie sehnte sich zurück in ihre Kindheit, mit ihren Spielen, ihrer Unschuld, ihrem Frieden. Mit einem Male kam ihr das Leben bis zu diesem Zeitpunkt ganz wunderbar vor. Sie hatte Angst zu sterben, all das zu verlieren, was ihr das Leben schon gegeben hatte.
    Bis zu dieser Nacht hatte sie ihr Leben mit Trauer betrachtet: Die Verluste und Verletzungen des vergangenen Jahres, ihre Albträume, die Strafe, Letzte eines ganzen Volkes zu sein.
    Doch nun wollte sie nicht sterben.
    Sie betrachtete den Vollmond, so strahlend hell, dass er fast blendete, und dachte, wie schön es wäre, den Krieg zu vergessen und wieder jenes Mädchen zu sein, das sie im Grunde aber vielleicht niemals war. Was wäre schlecht daran? Schluss mit den Waffen, dem Drill, der Allgegenwart des Todes. Sie hätte sich ein Leben im Land der Sonne aufgebaut, hätte vielleicht angefangen, an die Liebe zu denken, einen Mann gefunden, mit dem sie hätte leben können, mit dem sie Kinder bekommen hätte und, auf ein glückliches Leben zurückblickend, alt geworden wäre.
    Was wäre falsch daran? Gar nichts.
    Und doch konnte sie nicht. Wie hätte sie in Frieden leben können in dem Wissen, dass alle Angehörigen ihres Volkes, Männer, Frauen, Kinder, einfach hinweggefegt worden waren von einem wilden, unbegründeten Hass? Wie hätte sie ein glückliches Leben führen können, während in der Aufgetauchten Welt immer noch die schlimmsten Gräuel verübt wurden?
    Dann wurde vor ihren Augen alles wieder so, wie es tatsächlich war: Der Turm wurde wieder eine Ruine, der Olivenbaum ein gewöhnlicher Baum im hohen Unkraut. Der Traum von einem normalen Leben war ausgeträumt.
    Nihal wusste, dass sie noch in dieser Nacht zum Krieger würde.
    Sie löste ihren langen blauen Zopf, der über Jahre keine Schere gesehen hatte, und betrachtete diesen Strom von Haaren, der ihr bis über die Hüften reichte. Es war das Haar einer Königin, wie es Minnesänger besangen, in dem Geliebte sanft versanken.
    Sie griff zu ihrem Schwert. Und Büschel um Büschel fiel langsam zu Boden. Als sie fertig war, war ihre Frisur nur noch eine kurze, zerzauste Mähne.
    Sie warf die Haare in den Garten hinunter.
    Laio erwachte, als zum zweiten Mal ins Horn gestoßen wurde. Er schlug die Augen auf und sah sie vor seiner Pritsche stehen. Mit offenem Mund starrte er sie an. »Nihal! Was ist denn mit dir passiert?«
    »Lange Haare sind unpraktisch in der Schlacht. Nun steh aber auf, sonst bist du nicht fertig zum Appell.«
    Dann setzte sie sich in eine Ecke. Sie fühlte sich seltsam heiter: Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und niemand würde sie mehr davon abbringen können. Sie griff zu einem langen schwarzen Tuch und stellte sich vor den Schild, den sie in der Schlacht benutzen würde. Wenn auch ein wenig verzerrt, konnte sie doch ihr Spiegelbild darin erkennen, und als sie sich sah, schnürte es ihr die Kehle zu. Unsinn. Jetzt hör auf, dich wegen der paar Haare so anzustellen, wies sie sich selbst zurecht. Sie wickelte sich das Tuch so um den Kopf, dass man keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. Mit Sicherheit würde sie auffallen, weil sie maskiert und eine Frau war, aber niemand würde merken, dass sie eine Halbelfe war.
    Laio saß noch immer auf der Pritsche und sah ihr mit großen Augen

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